In einer detaillierten Analyse deckt Amnesty International das verstärkte landesweite Vorgehen der Behörden gegen Frauen und Mädchen auf, die sich dafür entscheiden, in der Öffentlichkeit kein Kopftuch zu tragen. Bei der jüngsten Eskalation am 16. Juli kündigte der Sprecher der iranischen Polizei, Saeed Montazer-Almahdi, die Rückkehr von Polizeieinsätzen zur Durchsetzung der Zwangsverschleierung an und drohte mit rechtlichen Schritten gegen Frauen und Mädchen, die sich der Zwangsverschleierung widersetzen. Gleichzeitig kursierten in den sozialen Medien Videos, auf denen zu sehen war, wie Frauen von Beamten in Teheran und Rasht gewaltsam angegriffen wurden und wie Sicherheitskräfte Tränengas auf Personen schossen, die Frauen bei der Flucht vor Verhaftungen in Rasht halfen.
Offiziellen Angaben zufolge haben seit dem 15. April 2023 mehr als eine Million Frauen SMS erhalten, in denen sie gewarnt wurden, dass ihre Fahrzeuge beschlagnahmt werden könnten, nachdem sie ohne Kopftuch gefilmt worden waren. Darüber hinaus wurden zahllose Frauen von Universitäten suspendiert oder ausgeschlossen, durften keine Abschlussprüfungen ablegen und hatten keinen Zugang zu Bankdienstleistungen und öffentlichen Verkehrsmitteln. Hunderte von Unternehmen wurden zwangsweise geschlossen, weil sie sich nicht an die Verschleierungspflicht hielten. Das verschärfte Vorgehen entlarvt den zweifelhaften Charakter der früheren Behauptungen der iranischen Behörden, die «Sittenpolizei» aufgelöst zu haben.
«Die Razzien werden durch Massenüberwachungstechnologien verschärft, mit denen unverschleierte Frauen in ihren Autos und in öffentlichen Bereichen identifiziert werden können» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
«Die Sittenpolizei im Iran ist zurück. Die Behörden machen niemandem etwas vor, indem sie die Abzeichen der ‚Sittenpolizei‘ von den Uniformen und Streifenwagen entfernen, während sie die Vollstrecker weiterhin ermutigen, an den Frauen und Mädchen ungestraft dieselbe Gewalt auszuüben, die Mahsa Zhina Amini getötet hat. Die Razzien werden durch Massenüberwachungstechnologien verschärft, mit denen unverschleierte Frauen in ihren Autos und in öffentlichen Bereichen identifiziert werden können», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. «Das verschärfte Vorgehen zeigt, dass die iranischen Behörden die Menschenwürde und die Rechte von Frauen und Mädchen auf Autonomie, Privatsphäre und freie Meinungsäusserung sowie Religions- und Weltanschauungsfreiheit bedauerlicherweise missachten. Die neuen Entwicklungen unterstreichen den verzweifelten Versuch der Behörden, ihre Herrschaft und Macht über diejenigen zu behaupten, die es gewagt haben, sich gegen die jahrzehntelange Unterdrückung aufzulehnen.»
Neuer Gesetzesentwurf verletzt Menschenrechte
Eine Frau in der Provinz Isfahan, die eine SMS erhielt, in der ihr befohlen wurde, ihr Auto für 15 Tage stehen zu lassen, weil sie ihr Kopftuch beim Autofahren abgenommen hatte, sagte zu Amnesty International: «Emotional und psychologisch haben all diese Drohungen, die sie [die Behörden] ausgesprochen haben, einen sehr negativen Einfluss auf uns gehabt... Die Islamische Republik will zeigen, dass sie bis zum Äussersten gehen kann, wenn es darum geht, die Zwangsverschleierung durchzusetzen...»
Am 14. Juni 2023 gab der Sprecher der iranischen Polizei bekannt, dass die Polizei seit dem 15. April 2023 fast eine Million SMS-Warnungen an Frauen verschickt hat, die unverschleiert in ihren Autos gefilmt wurden, 133‘174 SMS-Nachrichten verschickt hat, in denen die Stilllegung von Fahrzeugen für eine bestimmte Zeit gefordert wurde, 2000 Autos beschlagnahmt und mehr als 4000 «Wiederholungstäter*innen» im ganzen Land an die Justiz verwiesen wurden.
In dem Bestreben, dieses Vorgehen weiter zu kodifizieren und zu intensivieren, legten die Justiz- und Exekutivbehörden dem Parlament am 21. Mai 2023 den «Gesetzentwurf zur Förderung der Kultur der Keuschheit und des Hijab» vor. Nach diesem Gesetzesvorschlag werden Frauen und Mädchen, die sich ohne Kopftuch im öffentlichen Raum und in den sozialen Medien zeigen oder die «Nacktheit eines Körperteils zeigen oder dünne oder enge Kleidung tragen», mit einem Katalog von Strafen belegt, die ihre Menschenrechte, einschliesslich ihrer sozialen und wirtschaftlichen Rechte, stark beeinträchtigen. Dazu gehören Geldstrafen, die Beschlagnahmung von Autos und Kommunikationsgeräten, Fahrverbote, Gehalts- und Lohnabzüge, Entlassungen und das Verbot, Bankdienstleistungen in Anspruch zu nehmen.
Der Gesetzentwurf sieht vor, Frauen und Mädchen, die sich «systematisch oder in Absprache mit ausländischen Geheim- und Sicherheitsdiensten» über die Verschleierungspflicht hinwegsetzen, mit Haftstrafen von zwei bis fünf Jahren sowie mit Reiseverboten und Zwangsaufenthalt an «bestimmten Orten» zu bestrafen. Leiter*innen öffentlicher Einrichtungen und privater Unternehmen, die unverschleierte Mitarbeiter*innen und Kund*innen in ihren Räumlichkeiten zulassen, drohen Strafen, die von der Schliessung bis zu langen Haftstrafen und Reiseverboten reichen.
Der Gesetzentwurf sieht eine Reihe von Sanktionen gegen Sportler*innen, Künstler*innen und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vor, die sich den Verschleierungsgesetzen widersetzen, darunter Berufsverbote, Haftstrafen, Auspeitschungen und Geldstrafen.
Am 23. Juli 2023 teilte ein parlamentarischer Ausschuss mit, dass er den überarbeiteten Gesetzentwurf, der 70 Artikel umfasst, zur Überprüfung an das iranische Parlament weitergeleitet hat. Der überarbeitete Text ist nicht veröffentlicht worden.
Gleichzeitig stützen sich die Behörden auf das islamische Strafgesetzbuch, um Frauen, die sich ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit zeigen, strafrechtlich zu verfolgen und mit erniedrigenden Strafen zu belegen. Amnesty International hat Urteile gegen sechs Frauen überprüft, die im Juni oder Juli 2023 ergangen sind und in denen sie verpflichtet wurden, an Beratungsgesprächen wegen «antisozialer Persönlichkeitsstörungen» teilzunehmen, Leichen in einem Leichenschauhaus zu waschen oder Regierungsgebäude zu reinigen.
Zwangsverschleierung muss abgeschafft werden
Dieser Angriff auf die Rechte von Frauen und Mädchen findet inmitten einer Flut von hasserfüllten Äusserungen von Beamt*innen und staatlichen Medien statt, in denen die Ablegung des Kopftuchs als «Virus», «soziale Krankheit» oder «Störung» bezeichnet und die Entscheidung, sich ohne Kopftuch zu zeigen, mit «sexueller Verderbtheit» gleichgesetzt wird.
Die iranischen Behörden müssen die Zwangsverschleierung abschaffen, alle Verurteilungen und Strafen wegen Verweigerung der Zwangsverschleierung aufheben, alle Anklagen gegen diejenigen, die vor Gericht stehen, fallen lassen und alle Personen, die wegen Verweigerung der Zwangsverschleierung inhaftiert sind, bedingungslos freilassen. Die Behörden müssen ihre Pläne aufgeben, Frauen und Mädchen dafür zu bestrafen, dass sie ihre Rechte auf Gleichberechtigung, Privatsphäre und Meinungs-, Religions- und Glaubensfreiheit wahrnehmen.
«Die internationale Gemeinschaft darf nicht tatenlos zusehen, wie die iranischen Behörden die Unterdrückung von Frauen und Mädchen verschärfen. Die Reaktion der Staaten sollte sich nicht auf eindringliche öffentliche Erklärungen und diplomatische Interventionen beschränken, sondern auch die Verfolgung juristischer Wege einschliessen, um iranische Beamte für die Anordnung, Planung und Begehung weit verbreiteter und systematischer Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen und Mädchen durch die Einführung der Zwangsverschleierung zur Verantwortung zu ziehen. Alle Regierungen müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um Frauen und Mädchen zu unterstützen, die vor geschlechtsspezifischer Verfolgung und schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen im Iran fliehen. Sie müssen sicherstellen, dass sie Zugang zu schnellen und sicheren Flüchtlingsverfahren haben und unter keinen Umständen gewaltsam in den Iran zurückgeführt werden», sagte Agnès Callamard.