Dies zeigt eine neue Recherche von Amnesty International, welche im Vorfeld des Internationalen Frauentags veröffentlicht wurde.
Zum Bericht mit Zeug*innenaussagen (in Englisch)
Zehntausende Frauen wurden willkürlich mit der Beschlagnahmung ihrer Autos bestraft, weil sie sich den iranischen Verschleierungsgesetzen widersetzt hatten. Andere mussten Geldstrafen bezahlen oder an Kursen über «Moral» teilnehmen. Amnesty International hat zudem Kenntnis von Fällen, in denen Frauen strafrechtlich verfolgt und zu Auspeitschungen oder Gefängnisstrafen verurteilt wurden.
Die von der Menschenrechtsorganisation im Februar 2024 gesammelten Zeug*innenaussagen von 46 Personen, darunter 40 Frauen, eine trans* Frau, ein Mädchen und vier Männer, sowie die Auswertung offizieller Dokumente, darunter Gerichtsurteile und Strafverfolgungsbeschlüsse, zeigen, dass eine Vielzahl staatlicher Stellen an der Verfolgung von Frauen und Mädchen beteiligt ist, die bloss ihr Recht auf körperliche Autonomie, Meinungs- und Glaubensfreiheit wahrnehmen. Amnesty International hat Auszüge aus 20 Zeug*innenaussagen veröffentlicht, um einen Einblick in die erschreckende tägliche Realität von Frauen und Mädchen im Iran zu geben.
«Die iranischen Behörden terrorisieren Frauen und Mädchen, die weiterhin Widerstand gegen die Zwangsverschleierung leisten, indem sie sie ständiger Überwachung und polizeilicher Kontrolle aussetzen. Die drakonischen Massnahmen reichen vom Anhalten von Autofahrer*innen auf der Strasse über die massenhafte Beschlagnahmung ihrer Fahrzeuge bis hin zu unmenschlichen Auspeitschungen und Gefängnisstrafen», sagte Natalie Wenger, Länderverantwortliche für den Iran bei Amnesty Schweiz.
«Die Schweiz sollte die 55. Session des Menschenrechtsrates am 15. März nutzen, um auch multilateral Klartext zu sprechen: diese Gewalt gegen Frauen durch den Iran verletzt in eklatanter Weise die Menschenrechte.» Natalie Wenger, Länderverantwortliche für den Iran bei Amnesty Schweiz
Die zunehmende Verfolgung von Frauen und Mädchen durch die Sicherheitspolizei und andere staatliche Behörden findet nur wenige Wochen vor der Abstimmung des Uno-Menschenrechtsrates in Genf über die Verlängerung einer Untersuchungsmission im Iran statt. Diese hat das Mandat hat, die Menschenrechtsverletzungen insbesondere auch gegen Frauen und Kinder seit dem Tod von Jina Mahsa Amini zu untersuchen.
«Die Schweiz sollte die 55. Session des Menschenrechtsrates am 15. März nutzen, um auch multilateral Klartext zu sprechen: diese Gewalt gegen Frauen durch den Iran verletzt in eklatanter Weise die Menschenrechte, steht im Widerspruch zu den Interessen und Werten unseres Landes, und muss durch die Mitglieder des Rates sanktioniert werden. Die Schweiz soll sich dafür einsetzen, dass die Mitgliedsstaaten des Uno-Menschenrechtsrates die notorische Straflosigkeit des Irans unterbinden, indem sie das Mandat der Uno-Untersuchungsmission verlängern. Mit Blick auf zukünftige Gerichtsverfahren muss der Rat sicherstellen, dass ein unabhängiger internationaler Mechanismus weiterhin Beweise sammelt, konsolidiert und analysiert.»
Willkürliche Beschlagnahmung von Autos
Offiziellen Verlautbarungen zufolge hat die iranische Sittenpolizei seit April 2023 die willkürliche Beschlagnahme von zehntausenden von Fahrzeugen angeordnet, in denen Fahrerinnen oder Beifahrerinnen ohne oder mit «unangemessenem» Kopftuch sassen. Bereits für Mädchen im Alter von neun Jahren gilt die Verschleierungspflicht. Laut Zeug*innenaussagen stützen sich die Behörden auf Bilder von Überwachungskameras oder Berichte von Beamt*innen in Zivil, die auf den Strassen patrouillieren und eine Polizei-App namens «Nazer» verwenden, um Kennzeichen von Fahrzeugen mit weiblichen Fahrerinnen oder Passagierinnen, die gegen die Verschleierungspflicht verstossen, zu melden.
Die betroffenen Frauen und ihre Angehörigen erhielten Droh-SMS und Telefonanrufe, in denen sie aufgefordert wurden, sich bei der Sittenpolizei zu melden und ihre Fahrzeuge abzugeben, weil sie sich der Verschleierungspflicht widersetzt hätten. Amnesty International hat Screenshots von 60 solcher Textnachrichten geprüft, die im vergangenen Jahr an 22 Frauen und Männer geschickt worden waren.
In den letzten Monaten haben die Behörden massenhaft Autokontrollen durchgeführt, bei denen sie gezielt Autofahrerinnen auf stark befahrenen Strassen kontrollierten und ihre Fahrzeuge beschlagnahmten.
Amnesty International sprach mit 11 Frauen, die von einschüchternden Verfolgungsjagden, Anhalten und der Beschlagnahmung ihres Wagens berichteten. Sie waren alle ihren alltäglichen Aktivitäten nachgegangen, befanden sich auf dem Weg zur Arbeit, bei Arztbesuchen oder auf dem Schulweg. Sie betonten die völlige Missachtung ihrer Sicherheit durch die Polizei, die die Frauen auch auf stark befahrenen Autobahnen anhielt oder in Städten weit entfernt von ihrem Heimatort in Gewahrsam nahm.
Betroffene berichteten, dass das Verfahren zur Abholung ihrer Autos von der Sittenpolizei mit langen Warteschlangen und erniedrigender Behandlung verbunden ist. Sie schilderten geschlechtsspezifische Beleidigungen, demütigende Anweisungen, ihr Haar zu bedecken, oder die Androhung von Auspeitschungen, Gefängnis und Reiseverboten. In vielen Fällen ordnen leitende Beamte der Sittenpolizei die Freigabe des Fahrzeugs nach 15 bis 30 Tagen an. Zuvor mussten die Frauen allerdings willkürlich festgesetzte Gebühren für das Parken und das Abschleppfahrzeug begleichen und sich schriftlich zur Einhaltung der Verschleierungspflicht verpflichten.
Zugang zu öffentlichen Orten und Dienstleistungen verweigert
Laut Augenzeug*innen wird Frauen ohne Kopftuch heute im Iran der Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Flughäfen und Bankdienstleistungen verweigert. Ordnungskräfte kontrollieren die Länge und Passform von Ärmeln, Hosen und Uniformen. Oft werden Frauen dabei beschimpft, beleidigt oder ihnen wird mit strafrechtlicher Verfolgung gedroht.
Eine Frau berichtete Amnesty International von einem Vorfall Ende 2023, bei dem ein Ordnungshüter an einer U-Bahn-Station in Teheran ihrer 21-jährigen Nichte einen Schlag in die Brust versetzte. Ein 17-jähriges Mädchen berichtete, dass ihr Schuldirektor sie vorübergehend suspendierte, nachdem eine Überwachungskamera sie unverschleiert in einem Klassenzimmer aufgenommen hatte. Er drohte ihr demnach, sie dem Geheimdienst der Revolutionsgarden zu melden, wenn sie ihr Kopftuch wieder abnehme.
Amnesty International erfuhr von 15 Frauen und einem 16-jährigen Mädchen in sieben verschiedenen Provinzen, die nur deshalb strafrechtlich verfolgt wurden, weil sie in ihren Fahrzeugen, im öffentlichen Raum oder in Bildern auf den Sozialen Medien kein Kopftuch oder «unangemessene» Hijabs oder Hüte trugen.
Das Ausmass solcher Verfolgungen ist schwer zu ermitteln, da die Behörden keine Statistiken veröffentlichen. Laut einer Erklärung des Polizeichefs der Provinz Qom, Mohammad Reza Mirheidary, wurden seit März 2023 allein in Qom 1986 Strafverfahren im Zusammenhang mit der Zwangsverschleierung eröffnet. Dies deutet darauf hin, dass über solche Fälle viel zu wenig berichtet wird.
Mehrere Frauen berichteten, dass Staatsanwälte und Polizeibeamte über ihre hohe Arbeitsbelastung aufgrund des Widerstands der Frauen gegen die Zwangsverschleierung klagten.
Gewaltandrohungen und Auspeitschungen
Amnesty International dokumentierte Fälle von vier Frauen, die von der Staatsanwaltschaft aufgefordert wurden, an bis zu fünf Kursen über Moral teilzunehmen und bis zu einem Jahr lang jegliches «kriminelles» Verhalten zu vermeiden. Nur so würde das Strafverfahren gegen sie eingestellt. Die Organisation dokumentierte die Fälle von drei weiteren Frauen, die zu Geldstrafen verurteilt wurden. Eine weitere Frau wurde aufgefordert, einen Brief zu schreiben, in dem sie ihre Reue zum Ausdruck bringt.
Zusätzlich zu ihren Strafen drohten Staatsanwaltschaft und Richter den meisten Frauen und Mädchen mit Auspeitschung und Gefängnis, einer Frau wurde mit dem Tod und einer anderen mit sexualisierter Gewalt gedroht.
Amnesty International prüfte einen Bericht des Geheimdienstministeriums, der die fortgesetzte Überwachung der Online-Aktivitäten einer Künstlerin anordnete, die wegen ihrer Instagram-Posts überwacht wurde.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung waren die Verfahren gegen sechs der Frauen, deren Fälle Amnesty International dokumentiert hat, noch nicht abgeschlossen.
Zusätzlich zu ihren Strafen drohten Staatsanwaltschaft und Richter den meisten Frauen und Mädchen mit Auspeitschung und Gefängnis, einer Frau wurde mit dem Tod und einer anderen mit sexualisierter Gewalt gedroht. Der Vater eines 16-jährigen Mädchens berichtete Amnesty International, dass der Richter eines Jugendgerichts ihr mit Auspeitschung und Gefängnis drohte. Das Mädchen wurde schliesslich freigesprochen, musste aber eine Verpflichtungserklärung bei der Sittenpolizei unterschreiben.
Im Januar 2024 verhängten die Behörden eine Strafe von 74 Peitschenhieben gegen Roya Heshmati, weil sie sich in der Öffentlichkeit unverschleiert gezeigt hatte. In einer Aussage auf ihrem Social-Media-Account berichtete sie über ihre Auspeitschung durch einen männlichen Beamten in Anwesenheit eines Richters in einem Raum, den sie als «mittelalterliche Folterkammer» bezeichnete.
Zum Hintergrund
Das iranische Parlament steht kurz vor der Verabschiedung eines Gesetzes, das die behördlichen Übergriffe auf Frauen und Mädchen, die sich der Verschleierungspflicht widersetzen, rechtlich verankern und weiterverschärfen soll. Im Februar 2024 akzeptierte Präsident Ebrahim Raisi offiziell die erheblichen finanziellen Kosten für die Umsetzung des vorgeschlagenen Gesetzes und ebnete damit den Weg für die Verabschiedung des Gesetzes.
«Die Uno-Mitgliedstaaten, darunter auch die Schweiz, müssen darauf pochen, dass die iranischen Behörden die Zwangsverschleierung abschaffen, alle Verurteilungen und Strafen wegen Verstössen gegen die Verschleierungspflicht aufheben und alle Personen, die wegen Verweigerung der Zwangsverschleierung inhaftiert sind, bedingungslos freilassen», sagte Natalie Wenger. «Die Behörden müssen sofort aufhören, Frauen und Mädchen dafür zu bestrafen, dass sie ihre Rechte auf Gleichberechtigung, Privatsphäre und Meinungs-, Religions- und Glaubensfreiheit wahrnehmen.»