Gemäss dem Humanitären Völkerrecht sind absichtliche Angriffe auf Zivilpersonen oder zivile Objekte verboten und stellen Kriegsverbrechen dar. © EPA/MOHAMMED SABER
Gemäss dem Humanitären Völkerrecht sind absichtliche Angriffe auf Zivilpersonen oder zivile Objekte verboten und stellen Kriegsverbrechen dar. © EPA/MOHAMMED SABER

Israel/besetzte palästinensische Gebiete Fragen und Antworten zum Thema Völkerrecht im aktuellen Gazakonflikt

Inwiefern verletzen sowohl die israelischen Streitkräfte als auch die bewaffneten palästinensischen Gruppen humanitäres Völkerrecht? Was wären ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen? Was kann die Staatengemeinschaft tun? Antworten von Amnesty International auf brennende Fragen zum Krieg in Gaza.

> Wie steht Amnesty International zur Resolution des Uno-Menschenrechtsrats vom 23. Juli 2014? Was muss als Nächstes passieren?

< Amnesty International begrüsst die Resolution S-21/1 mit dem Auftrag zur Bildung einer Untersuchungskommission. Die Wortlaut erlaubt der Kommission, Verletzungen des internationalen Rechts durch alle beteiligten Konfliktparteien zu untersuchen.

Die Untersuchungskommission bietet eine wichtige Chance, den Teufelskreis anhaltender Straflosigkeit für Verletzungen des internationalen Rechts in Israel und den besetzen palästinensischen Gebieten zu durchbrechen.

Um effektiv zu sein, muss die Untersuchungskommission gründlich, unabhängig und unparteiisch arbeiten, und Verletzungen durch alle Konfliktparteien untersuchen. Sie muss mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet werden und unlimitierten Zugang zu allen relevanten Gebieten erhalten.

Amnesty International fordert alle Staaten– einschliesslich aller EU Mitgliedstaaten, die sich der Stimme enthalten haben – auf, mit der Untersuchungskommission wo immer nötig zusammenzuarbeiten.

> Welches sind die wichtigsten Verpflichtungen gemäss Humanitären Völkerrecht, welche die Konfliktparteien während der Kampfhandlungen einhalten müssen?

< Während eines bewaffneten Konflikts müssen alle Parteien – ob staatliche oder nicht-staatliche bewaffnete Einheiten – das Humanitäre Völkerrecht respektieren, das zum Ziel hat, mittels klarer Verhaltensregeln für alle Beteiligten die Zivilbevölkerung zu schützen. Zudem sind Staaten auch während eines Konflikts dazu verpflichtet, internationale Menschenrechtsnormen einzuhalten.

Gemäss dem Humanitären Völkerrecht müssen alle Parteien in einem bewaffneten Konflikt zwischen militärischen Zielen und der Zivilbevölkerung und zivilen Einrichtungen unterscheiden. Nur Erstere dürfen direkt angegriffen werden.

Absichtliche Angriffe auf Zivilpersonen oder zivile Objekte – wie Wohnhäuser, medizinische Einrichtungen, Schulen, Regierungsgebäude –, welche nicht zu militärischen Zwecken genutzt werden, sind verboten und stellen Kriegsverbrechen dar.

Unterschiedslose und unverhältnismässige Angriffe (das heisst Angriffe, bei welchen die zivilen Opfer oder die Zerstörung ziviler Objekte in keinem Verhältnis zu den erwarteten militärischen Vorteilen stehen) sind ebenfalls verboten.

Alle Parteien müssen die notwendigen Massnahmen ergreifen, um bei einem Angriff den Schaden an Zivilpersonen und zivilen Einrichtungen zu minimieren. Dazu gehört, dass die Zivilbevölkerung im Voraus in angemessener Frist vor Angriffen gewarnt wird, und dass ein Angriff gestoppt oder unterbrochen wird, wenn sich herausstellt, dass es sich um ein ziviles Ziel handelt oder dass der Angriff unverhältnismässig ist. Auch müssen die Parteien alle möglichen Vorkehrungen treffen, um die Zivilbevölkerung auf ihrem eigenen Gebiet vor den Auswirkungen von gegnerischen Angriffen zu schützen. Beispielsweise müssen kriegführende Parteien vermeiden, die Zivilbevölkerung in Gefahr zu bringen, indem sie Munition in dicht bevölkerten zivilen Gebieten lagern und von dort aus Angriffe ausführen.

> Welche typischen Verletzungen internationaler Rechtsnormen durch israelische Streitkräfte im Gazastreifen hat Amnesty International beobachtet, seit Israel am 8. Juli 2014 die Operation «Protective Edge» lancierte?

< Israelische Streitkräfte haben Angriffe ausgeführt, denen Hunderte von Zivilistinnen und Zivilisten zum Opfer fielen. Dabei verwendeten sie sowohl Präzisionswaffen wie etwa aus Drohnen abgefeuerte Raketen, aber auch zielungenaue Artilleriemunition, um dicht besiedelte Wohngebiete wie Shujaya zu beschiessen. Sie haben auch Tausende von Wohnhäusern direkt angegriffen. Israel scheint Wohnhäuser von Personen, welche mit der Hamas in Verbindung gebracht werden, als legitime militärische Ziele zu betrachten – ein Standpunkt, der nicht mit dem Humanitären Völkerrecht vereinbar ist.

Im ganzen Gazastreifen wurden mehrere medizinische Einrichtungen und nicht-militärische Regierungsgebäude zerstört oder beschädigt. Die Uno berichtete, dass eine Schule im al-Maghazi Flüchtlingslager im Zentrum von Gaza, in welcher Vertriebene Obdach gesucht hatten, mindestens zweimal von israelischen Streitkräften bombardiert wurde.

Eine weitere Schule in Beit Hanun, im Norden Gazas, in welcher vertriebene Familien untergebracht waren, wurde am 24. Juli von einem Angriff getroffen. Mindestens 15 Zivilpersonen kamen dabei ums Leben, viele weitere wurden verletzt. Die Uno hat auch in diesem Fall eine sofortige Untersuchung gefordert.

Auch wenn die israelischen Behörden behaupten, sie würden die Zivilbevölkerung in Gaza jeweils warnen, zeigt sich immer wieder, dass dies nicht im Sinne einer «wirksamen Warnung» gemäss Humanitärem Völkerrecht geschieht. Angriffe durch Israel haben ausserdem zu massiven Vertreibungen der palästinensischen Zivilbevölkerung innerhalb des Gazastreifens geführt.

> Wie stellt sich Amnesty International zu den wahllosen Raketenangriffen auf Israel durch bewaffnete palästinensische Gruppen aus dem Gazastreifen? Verletzen weitere Handlungen von bewaffneten palästinensischen Gruppen in Gaza seit dem 8. Juli 2014 das Humanitäre Völkerrecht?

< Nach Angaben der israelischen Armee haben der militärische Flügel der Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen zwischen dem 8. und 18. Juli über 1700 Raketen nach Israel abgefeuert. Dutzende weitere kommen jeden Tag dazu. In Israel wurden bisher drei Zivilpersonen getötet. Wohnhäuser und andere zivile Einrichtungen in Israel wurden beschädigt. Das Humanitäre Völkerrecht verbietet den Gebrauch von Waffen, die unterschiedslos wirken. Die Raketen, welche aus dem Gazastreifen nach Israel abgefeuert werden, können nicht zielgenau ausgerichtet werden, ihre Verwendung verletzt deshalb Humanitäres Völkerrecht.

Das Abfeuern von zielungenauen Raketen und Mörsergranaten gefährdet auch die palästinensische Zivilbevölkerung innerhalb des Gazastreifens und in der West Bank.

Auch lassen Aussagen von einigen Befehlsführern bewaffneter palästinensischer Gruppen darauf schliessen, dass diese keine Skrupel haben, die israelische Zivilbevölkerung anzugreifen, im Gegenteil: Sie führen solche Angriffe in der vollen Absicht aus, israelische Zivilpersonen zu töten und zu verletzen. Angriffe, welche direkt auf die Zivilbevölkerung gerichtet sind, und wahllose Angriffe, welche zivile Tote oder Verletzte zur Folge haben, stellen Kriegsverbrechen dar.

> Wenn das israelische Militär die Bewohnerinnen und Bewohner eines bestimmten Gebietes im Gazastreifen vorgängig auffordert, das Gebiet zu evakuieren, erfüllt dies die Auflage gemäss Humanitärem Völkerrecht, Zivilpersonen zu schützen?

< Die effektive und frühzeitige Warnung von Zivilpersonen ist nur eine der vorgeschriebenen Präventionsmassnahmen, welche den Schaden an der Zivilbevölkerung minimieren sollen. Die von den israelischen Streitkräften ausgesprochenen Warnungen genügten in vielen Fällen den elementaren Kriterien einer «wirksamen Warnung» nicht: Diese umfassen unter anderem die Rechtzeitigkeit der Warnung, die Angabe sicherer Zufluchtsorte, die Gewährleistung sicherer Fluchtwege sowie genügend Zeit für die Gewarnten, um vor dem Angriff zu fliehen.

Gemäss Berichten gab es auch tödliche Angriffe, welche zu rasch nach einer Warnung ausgeführt wurden. So oder so entbindet jedoch eine frühzeitige Warnung die Streitkräfte nicht von ihrer Verpflichtung, Zivilpersonen zu verschonen und alle erforderlichen Schutzmassnahmen zu ergreifen, um zivile Opfer und Schäden an zivilen Einrichtungen zu vermeiden.

Die anhaltende militärische Blockade des Gazastreifens durch Israel und die Schliessung des Übergangs bei Rafah durch die ägyptischen Behörden seit Beginn der Kriegshandlungen bedeuten zudem, dass die Zivilbevölkerung in Gaza nicht in die Nachbarländer fliehen kann.

> Die israelischen Behörden behaupten, dass die Hamas und andere bewaffnete palästinensischen Gruppen in Gaza palästinensische Zivilpersonen als «menschliche Schutzschilde» missbrauchen. Hat Amnesty International Beweise, dass dies während der momentanen Kriegshandlungen vorkam?

< Amnesty International beobachtet und untersucht solche Berichte, hat aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Beweise, dass in den gegenwärtigen Kriegshandlungen palästinensische Zivilpersonen durch die Hamas oder andere bewaffnete palästinensische Gruppen absichtlich zur «Abschirmung» spezifischer Einrichtungen oder militärischen Personals oder Materials vor israelischen Angriffen verwendet wurden.

In früheren Konflikten hat Amnesty International dokumentiert, dass bewaffnete palästinensische Gruppen, in Verletzung des Humanitären Völkerrechts, Munition in Wohngebieten gelagert und von dort aus zielungenaue Raketen abgefeuert hatten.

Im aktuellen Konflikt sind auch Meldungen aufgetaucht, wonach die Hamas die Zivilbevölkerung dazu gedrängt haben soll, israelische Aufforderungen zur Evakuierung zu ignorieren. Das kann aber auch im Bestreben geschehen sein, Panik und Fluchtbewegungen zu minimieren. So oder so wäre eine solche Aufforderung nicht gleichzusetzen mit der Aufforderung an Zivilpersonen, als «menschliche Schutzschilde» für Kämpfer, Munition oder militärische Ausrüstung in ihren Häusern zu bleiben. Zudem hätte Israel, selbst wenn solche «menschliche Schutzschilde» aufgestellt würden, noch immer die Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schützen.

> Gemäss gewissen Berichten haben die israelischen Streitkräfte bei ihrer gegenwärtigen Operation im Gazastreifen sogenannte «Flechette»-Munition verwendet. Was sagt Amnesty International zum Gebrauch solcher Waffen? Hat das israelische Militär auch früher schon Flechettes im Gazastreifen verwendet?

< «Flechettes» sind 3.5 cm lange spitze Stahlprojektile. Zu 5000 bis 8000 Stück in Granaten verpackt, werden sie üblicherweise von Panzern aus abgeschossen. Die Granaten explodieren in der Luft und streuen die Projektile in einem konischen Muster über ein Gebiet von ca. 300 mal 100 Metern. Flechettes wurden für die Abwehr von Masseninfanterie-Angriffen oder den Kampf gegen grosse Einheiten in offenem Gelände konzipiert. Angewendet in dicht besiedeltem Gebiet, stellen sie natürlich eine überaus grosse Gefahr für die Zivilbevölkerung dar.

Lokale Menschenrechtsgruppen haben über Fälle berichtet, in denen Zivilpersonen im Gazastreifen durch Flechette-Munition getötet oder verletzt wurden. Amnesty International konnte während der aktuellen Kampfhandlungen bisher keine konkreten solchen Fälle verifizieren, hat jedoch in früheren Konflikten, etwa während der Operation «Cast Lead», die Verwendung von Flechette-Waffen durch israelische Streitkräfte dokumentiert. Dabei kamen Zivilpersonen ums Leben, darunter auch Kinder.

Der Gebrauch von Flechette-Waffen ist gemäss Kriegsvölkerrecht nicht per se verboten, jedoch liegt auf der Hand, dass sie nie in dicht besiedelten Gebieten verwendet werden dürften.

> Was fordert Amnesty International aktuell von der internationalen Gemeinschaft?

< Alle Staaten (namentlich die wichtigsten Waffenlieferanten, etwa die USA für Israel) müssen jegliche Lieferungen von Waffen, Munition und militärischem Material oder Technologie an alle am Konflikt beteiligten Parteien umgehend einstellen, solange eine substanzielle Gefahr besteht, dass diese für schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts oder der Menschenrechte eingesetzt werden. Der Lieferstopp sollte alle indirekten Exporte über Drittländer mit einschliessen, ebenso den Transfer militärischer Ersatzteile und Technologien sowie Vermittlungs-, Finanz- oder Logistik-Dienstleistungen im Zusammenhang mit solchen Lieferungen.

Die Staaten sollten den Bericht der Uno-Untersuchungskommission über den Gaza-Konflikt von 2009 (so genannter Goldstone-Bericht) und den kommenden Bericht der jetzt vom Menschenrechtsrat mandatierten Untersuchungskommission als Grundlage nutzen, um Verstösse gegen das Völkerrecht gemäss dem Prinzip der universellen Rechtsprechung vor ihren nationalen Gerichten zu untersuchen und zu verfolgen.

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Medienmitteilung veröffentlicht: Bern, 28.07.2014
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