Berichtszeitraum: 1. Januar – 31. Dezember 2019
Amtliche Bezeichnung: Staat Palästina
Staatsoberhaupt: Mahmoud Abbas
Regierungschef: Mohammad Shtayyeh (löste Rami Hamdallah im April im Amt ab)
Überblick
Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit
Exzessive Gewaltanwendung
Folter und andere Misshandlungen
Frauenrechte
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen
Todesstrafe
Justizsystem
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Übergriffe bewaffneter Gruppen
Auch 2019 gab es wieder Berichte über die weitreichende Anwendung von Folter und anderen Misshandlungen von Gefangenen unter beiden Behörden. Die dafür Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Frauen im Westjordanland und im Gazastreifen litten unter Diskriminierung. Mindestens 24 Frauen und Mädchen wurden Berichten zufolge Opfer von sogenannten Ehrenmorden. Mindestens acht Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI*) wurden dem Vernehmen nach wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität willkürlich inhaftiert und misshandelt. Gerichte im Gazastreifen verhängten Todesurteile. Der Hohe Justizrat (High Judicial Council), der die Unabhängigkeit der RichterInnen verbessern sollte, wurde aufgelöst. Strafmassnahmen, die von den palästinensischen Behörden im Westjordanland verhängt wurden, verschärften die bereits katastrophale humanitäre Krise im Gazastreifen. Bewaffnete palästinensische Gruppen im Gazastreifen feuerten zeitweise unterschiedslos wirkende Raketen auf Israel. Dabei kamen vier Israelis ums Leben.
Hintergrund
Israel hielt die seit Juni 2007 ununterbrochene Luft-, Land- und Seeblockade des Gazastreifens weiterhin aufrecht. Ägypten versuchte erneut, eine völlige Schliessung des Grenzübergangs von Rafah in den Gazastreifen durchzusetzen. Solche Aktionen verschlechterten die bereits katastrophale wirtschaftliche und humanitäre Situation der rund 2 Mio. BewohnerInnen des Gazastreifens noch weiter.
Am 29. Januar 2019 trat die Nationale Einheitsregierung unter der Führung von Rami Hamdallah zurück. Die neue Regierung und ihr Ministerpräsident Mohammad Shtayyeh wurden am 13. April 2019 vereidigt. Mohammad Shtayyeh ist ein führendes Mitglied der Fatah. Die Hamas und die Volksfront zur Befreiung Palästinas (Popular Front for the Liberation of Palestine ) bewerteten seine Ernennung als einen Schlag gegen die Einheitsbestrebungen. Am 6. Oktober 2019 kündigte Präsident Mahmoud Abbas an, dass er Pläne für Parlamentsneuwahlen mit allen Gruppierungen diskutieren wolle, auch mit der Hamas.
Am 17. Februar 2019 gab die israelische Regierung bekannt, dass sie ein im Vorjahr verabschiedetes Gesetz nun anwende, wonach sie fünf Prozent der Gelder einbehalten werden, die sie regelmässig für die palästinensische Behörde einzieht und dieser erstatten muss. Nach Angaben der staatlichen Stellen in Israel handelt es sich bei der abgezogenen Summe um den Betrag, den die palästinensischen Behörden an die Familien der PalästinenserInnen zahlten, die für «Straftaten in Bezug auf die Sicherheit» von Israel für schuldig befunden und verurteilt wurden. Aus Protest gegen diese Massnahme weigerten sich die palästinensischen Behörden acht Monate lang, den reduzierten Betrag anzunehmen. Der Streit führte dazu, dass die palästinensischen Behörden die Gehälter von Zehntausenden BeamtInnen drastisch reduzieren mussten.
Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit
Die von der Fatah geführten palästinensischen Behörden im Westjordanland und die De-facto Verwaltung der Hamas im Gazastreifen nahmen willkürlich Dutzende friedlich Demonstrierende und KritikerInnen fest, unter ihnen JournalistInnen, Studierende und MenschenrechtsaktivistInnen. Im Westjordanland gingen die Behörden erneut hart gegen freie Meinungsäusserungen im Internet vor.
Nach Berichten des Palästinensischen Zentrums für Entwicklung und Freiheit der Medien Mada (Palestinian Centre for Development and Media Freedom) zeichneten die palästinensischen Behörden im Westjordanland für 87 Angriffe auf die Freiheit der Medien verantwortlich, darunter willkürliche Festnahmen, Misshandlungen während Verhören, Beschlagnahmung von Ausrüstungsgegenständen, tätliche Angriffe und Berichterstattungsverbote. Die Hamas-Behörden im Gazastreifen waren für 113 solcher Angriffe verantwortlich. Am 4. Juni 2019 griffen Sicherheitskräfte in einer Moschee in Hebron im Westjordanland mehrere Mitglieder der Hizb-ut-Tahrir an. Diese gewaltlose islamistische Gruppe hatte eine Feier aus Anlass eines muslimischen Feiertags angekündigt, einen Tag vor der offiziellen Feier. Sicherheitskräfte belagerten die Moschee, griffen Gläubige tätlich an und nahmen rund 15 Personen willkürlich fest. Diese wurden kurz danach ohne Anklageerhebung wieder freigelassen.
Am 10. März 2019 nahmen die Behörden der Fatah im Gazastreifen 13 AktivistInnen der Bewegung Wir wollen leben (We Want to Live) willkürlich fest. Die Gruppe bereitete Demonstrationen vor, mit denen sie vier Tage später gegen die steigenden Lebenshaltungskosten und die sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen protestieren wollten. Die Festnahmen erfolgten während eines privaten Treffens in einem Haus in der Stadt Jabalya im Norden des Gazastreifens, das dem Aktivisten Jihad Salem al-Arabeed gehörte. Sicherheitskräfte stürmten das Haus ohne einen Durchsuchungsbeschluss. Die Unabhängige Kommission für Menschenrechte (Independent Commission for Human Rights – ICHR), die nationale palästinensische Menschenrechtsinstitution, berichtete, dass die Aktivisten während ihrer Haft gefoltert und anderweitig misshandelt worden waren.
Die Behörden im Westjordanland gingen scharf gegen die Meinungsfreiheit im Internet vor und brachten das drakonische Gesetz zu elektronischen Straftaten (Electronic Crimes Law) zur Anwendung. Am 21. Oktober 2019 blockierte das Verwaltungsgericht in Ramallah auf Antrag der palästinensischen Staatsanwaltschaft den Zugang zu 59 Internetseiten, weil ihr Inhalt auf der Grundlage von Artikel 39 des Gesetzes zu elektronischen Straftaten «die nationale Sicherheit bedrohe» und «die öffentliche Ordnung störe». Die Betreiber aller betroffenen Internetseiten hatten Kritik an den Behörden geübt. Amnesty International ist überzeugt, dass das Gesetz zu elektronischen Straftaten willkürlich die Freiheit der Medien einschränkt und abweichende Meinungen nicht toleriert und forderte die Abschaffung dieses Gesetzes.
Exzessive Gewaltanwendung
Palästinensische Sicherheitskräfte im Gazastreifen setzten exzessive und unverhältnismässige Gewalt ein, um friedliche Protestaktionen zu beenden. Zwischen dem 14. und dem 16. März 2019 demonstrierten Tausende PalästinenserInnen im gesamten Gazastreifen gegen ihre entsetzlichen Lebensbedingungen. Sicherheitskräfte der Hamas gingen mit exzessiver Gewalt gegen zahlreiche friedliche Demonstrierende, PassantInnen, JournalistInnen und Angehörige von Nicht-Regierungsorganisationen vor und machten von Lärmgranaten, Schlagstöcken, Pfefferspray und scharfer Munition Gebrauch, um die Demonstrationen zu beenden.
Folter und andere Misshandlungen
Folter und andere Misshandlungen durch palästinensische Sicherheitskräfte im Westjordanland und im Gazastreifen waren weiterhin an der Tagesordnung und wurden nicht geahndet. Bis Ende November 2019 hatte die ICHR Berichte über 143 Fälle von Folter und anderweitigen Misshandlungen im Westjordanland und 156 Fälle im Gazastreifen erhalten.
Der Journalist und Aktivist Amer Balousha, einer der Organisatoren von We Want to Live gab an, er sei am 16. März 2019 von Sicherheitskräften der Hamas in Gewahrsam gefoltert worden. Er musste seinen Angaben zufolge in schmerzhaften Positionen verharren und wurde geschlagen. In den ersten Tagen nach seiner Festnahme trat er in einen Hungerstreik, um gegen seine Inhaftierung und die Haftbedingungen zu protestieren. Am 19. März 2019 wurde er in das Kamal Adwan-Krankenhaus in Beit Lahia im Norden des Gazastreifens zur medizinischen Behandlung der Folgen seines Hungerstreiks verlegt. Am 26. März 2019 wurde er aus der Haft entlassen.
Frauenrechte
Frauen und Mädchen wurden 2019 weiterhin durch Gesetze sowie im täglichen Leben diskriminiert und waren nur unzureichend gegen sexualisierte Gewalt und andere geschlechtsspezifische Gewalttaten, einschliesslich «Ehrenmorde», geschützt. Das Zentrum für Rechtshilfe und Beratung von Frauen (Women’s Center for Legal Aid and Councelling) dokumentierte 2019 24 Fälle von Frauen und Mädchen, die im Westjordanland und im Gazastreifen Opfer von sogenannten Ehrenmorden geworden waren. Die Täter waren meist männliche Familienangehörige.
Am 22. August 2019 starb die Maskenbildnerin Israa Ghayeb aus Beit Sahour, einer Stadt im Süden des besetzten Westjordanlands, nachdem sie von Familienmitgliedern geschlagen worden war. Israa Ghayebs Tod löste Protestaktionen im gesamten Westjordanland und dem Gazastreifen aus, mit denen die Menschen einen besseren Schutz von Frauen und die Abschaffung von diskriminierenden Gesetzen forderten. Am 12. September 2019 schliesslich gab die palästinensische Oberstaatsanwaltschaft bekannt, dass die Behörde eine Untersuchung des Vorfalls angeordnet habe. Es wurde festgestellt, dass Israa Ghayebs Tod eine Folge von häuslicher Gewalt war. Drei nicht namentlich genannte Personen wurden wegen Totschlags angeklagt, worauf mindestens fünf Jahre Gefängnis steht.
Palästinensische Frauenrechtsgruppen forderten in einer bereits 2007 begonnen Kampagne weiterhin nachdrücklich ein umfassendes Gesetz gegen häusliche Gewalt. Die palästinensischen Behörden im Westjordanland überprüften bereits seit 2016 ein Gesetz zum Schutz der Familie (Family Protection Law). Häusliche Gewalt ist sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen noch immer nicht strafbar.
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen
Auch wenn gleichgeschlechtliche Partnerschaften im Westjordanland nicht strafbar sind, gab die palästinensische Polizei am 17. August 2019 bekannt, dass alle Aktionen von alQaws für sexuelle und Geschlechterdiversität in der palästinensischen Gesellschaft (alQaws for Sexual and Gender Diversity in Palestinian Society), einer Nichtregierungsorganisation, die zu LGBTI-Themen arbeitet, in Zukunft verhindert werden. Diese Stellungnahme empörte viele Menschenrechtsgruppen, führte jedoch andererseits zu vielen Nachrichten in den sozialen Medien, die zur Gewalt gegen alQaws und die Angehörigen der LGBTI-Gemeinschaft aufriefen. Darunter waren auch Morddrohungen. Die Stellungnahme verletzte auch Rechtsvorschriften des geänderten Palästinensischen Grundgesetzes und internationaler Verträge, die der Staat Palästina unterzeichnet hatte. Die palästinensische Polizeibehörde nahm die Stellungnahme daraufhin umgehend zurück.
Zwischenzeitlich dokumentierte alQaws mindestens acht Fälle von LGBTI-Personen, die willkürlich festgenommen oder von palästinensischen Sicherheitskräften im Westjordanland wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer geschlechtlichen Identität misshandelt worden waren.
Abschnitt 152 des Strafgesetzbuches, das im Gazastreifen zur Anwendung kommt, stellte einvernehmliche sexuelle Handlungen unter Gleichgeschlechtlichen weiterhin unter Strafe. Es können bis zu zehn Jahre Haft verhängt werden.
Todesstrafe
Weder die palästinensischen Behörden im Westjordanland noch die De-facto Verwaltung der Hamas im Gazastreifen unternahmen Schritte, um die Abschaffung der Todesstrafe voran zu treiben, zu der der Staat Palästina nach Unterzeichnung des Zweiten Fakultativprotokolls zum Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe verpflichtet ist.
Im Gazastreifen verhängten die von der Hamas verwalteten Gerichte mindestens drei Todesurteile. Es gab jedoch keine Berichte über Hinrichtungen.
Justizsystem
Am 19. Juli 2019 löste Präsident Abbas den Hohen Justizrat des Westjordanlandes auf. Die Institution war 2002 einberufen worden, um die Unabhängigkeit der Richter zu verbessern, die Transparenz und die Leistungsfähigkeit ihrer Arbeit sicherzustellen, die Prozessabläufe zu verbessern und die Bearbeitung der Fälle zu erleichtern.
Die palästinensischen Behörden im Westjordanland machten von einem Gesetz aus dem Jahr 1954 Gebrauch, um zahlreiche Menschen für bis zu sechs Monate in Administrativhaft zu nehmen, wenn der zuständige Gouverneur dies beantragt. Laut Aussagen von palästinensischen Menschenrechtsgruppen waren zahlreiche dieser Häftlinge aus politischen Gründen inhaftiert. Solche Festnahmen können auch ohne Anklageerhebung und rechtsstaatliche Verfahren durchgeführt werden. Zu Ende November 2019 hatte die ICHR 195 solcher Fälle von Haft dokumentiert.
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Die palästinensischen Behörden im Westjordanland verhängten weiterhin Strafen über BewohnerInnen des Gazastreifens, indem Stromlieferungen gekürzt und Subventionen für die Wasserversorgung reduziert wurden. Die Lieferungen von Medikamenten in den Gazastreifen blieben eingeschränkt, Gehälter wurden gekürzt oder einbehalten. Diese Massnahmen verschlechterten die bereits katastrophale humanitäre Lage im Gazastreifen, die während der seit zwölf Jahren andauernden Blockade durch Israel verursacht worden war.
Übergriffe bewaffneter Gruppen
Palästinensische bewaffnete Gruppen feuerten immer wieder wahllos Raketen auf Israel. Vier IsraelInnen kamen dabei ums Leben. Obwohl die Hamas-Behörden die Raketenangriffe meistens verhinderten, leiteten sie keine Untersuchungen der Vorfälle ein. Die meisten der PalästinenserInnen, die im Laufe des Jahres 2019 für den Tod von drei IsraelInnen durch Messerattacken, Schüsse und andere Anschläge im Westjordanland und in Israel verantwortlich waren, gehörten keiner der bewaffneten Gruppen an. Diese Gruppen begrüssten jedoch häufig diese Angriffe.
Bericht von Amnesty International
Palestine: New government must reverse human rights decline (Pressemitteilung, 11. März 2019)