In einem neuen Bericht mit dem Titel «Automated Apartheid» (PDF, english, 81 p.) dokumentiert Amnesty International, wie Gesichtserkennungssysteme Teil eines ständig wachsenden Überwachungsnetzes wurden, das die Kontrolle der israelischen Regierung über die Palästinenser*innen festigt und zur Aufrechterhaltung des israelischen Apartheidsystems beiträgt.
«Neben der ständigen Bedrohung durch Gewalt und willkürliche Verhaftungen müssen Palästinenser*innen nun auch mit dem Risiko rechnen, von einem Algorithmus verfolgt zu werden ... Dies ist das jüngste Beispiel dafür, dass Gesichtserkennungstechnologie, wenn sie zur Überwachung eingesetzt wird, mit den Menschenrechten unvereinbar ist.» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
Das System namens «Red Wolf» wird an militärischen Kontrollpunkten in der Stadt Hebron im besetzten Westjordanland eingesetzt, wo es die Gesichter von Palästinenser*innen scannt und ihre Daten ohne ihre Zustimmung in umfangreiche Überwachungsdatenbanken aufnimmt. Zudem setzt Israel verstärkt Gesichtserkennungstechnologien gegen Palästinenser*innen im besetzten Ostjerusalem ein, insbesondere nach Protesten und in der Umgebung illegaler Siedlungen. Sowohl in Hebron als auch im besetzten Ostjerusalem unterstützt die Gesichtserkennungstechnologie ein dichtes Netz von CCTV-Kameras (Closed-Circuit Television), mit denen Palästinenser*innen nahezu ständig überwacht werden. Der Bericht «Automated Apartheid» zeigt, dass diese Überwachung Teil eines bewussten Versuchs der israelischen Behörden ist, feindliche Rahmenbedingungen für Palästinenser*innen zu schaffen, mit dem Ziel, ihre Präsenz in strategischen Gebieten zu minimieren.
«Die israelischen Behörden setzen hochentwickelte Überwachungsinstrumente ein, um die Segregation zu verstärken und die Apartheid gegen Palästinenser*innen zu automatisieren», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. «Neben der ständigen Bedrohung durch Gewalt und willkürliche Verhaftungen müssen Palästinenser*innen nun auch mit dem Risiko rechnen, von einem Algorithmus verfolgt zu werden oder aufgrund von Informationen, die in diskriminierenden Überwachungsdatenbanken gespeichert sind, vom Betreten ihres eigenen Viertels ausgeschlossen zu werden. Dies ist das jüngste Beispiel dafür, dass Gesichtserkennungstechnologie, wenn sie zur Überwachung eingesetzt wird, mit den Menschenrechten unvereinbar ist.»
Amnesty International fordert die israelischen Behörden auf, die massenhafte und gezielte Überwachung von Palästinenser*innen zu beenden und die willkürlichen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit in den besetzten Gebieten aufzuheben. Dies ist ein notwendiger Schritt zum Abbau der Apartheid. Zudem fordert Amnesty International ein weltweites Verbot der Entwicklung, des Verkaufs und des Einsatzes von Gesichtserkennungstechnologie zu Überwachungszwecken.
Der Bericht «Automated Apartheid» konzentriert sich auf Hebron und Ostjerusalem, die einzigen Städte in den besetzten palästinensischen Gebieten mit israelischen Siedlungen innerhalb ihrer Grenzen. Der Bericht stützt sich auf Beweise, die im Rahmen von Recherchen im vergangenen Jahr gesammelt wurden, darunter Interviews mit palästinensischen Einwohner*innen, Analysen von frei zugänglichem Material und Aussagen von derzeitigen und ehemaligen israelischen Militärangehörigen. Diese Zeug*innenaussagen wurden von der israelischen Organisation Breaking the Silence zur Verfügung gestellt und dienten dazu, die Erkenntnisse von Amnesty International über die Funktionsweise der israelischen Gesichtserkennungssysteme zu untermauern.
Das System «Red Wolf»
Im Rahmen eines Abkommens zwischen den israelischen Behörden und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) aus dem Jahr 1997 wurde Hebron in zwei Teile geteilt, die als H1 und H2 bekannt sind. H1, das 80 Prozent der Stadt ausmacht, wird von den palästinensischen Behörden verwaltet, während Israel die volle Kontrolle über H2 behält, zu dem auch die Altstadt gehört. In H2 leben rund 33‘000 Palästinenser*innen und etwa 800 israelische Siedler*innen, die sich in mindestens sieben illegalen Siedlungsenklaven aufhalten.
Die palästinensischen Bewohner*innen von H2 unterliegen drakonischen Bewegungseinschränkungen. Der Zugang zu bestimmten Strassen ist ihnen verwehrt, ein Netz von militärischen Kontrollpunkten und anderen Hindernissen behindert ihr tägliches Leben erheblich. Israelische Siedler*innen in Hebron fahren auf anderen Strassen als Palästinenser*innen und müssen keine Kontrollpunkte benutzen.
Der Bericht «Automated Apartheid» enthüllt, dass «Red Wolf» vom israelischen Militär an den Kontrollpunkten in Hebron eingesetzt wird. Vieles deutet darauf hin, dass «Red Wolf» mit zwei anderen vom Militär betriebenen Überwachungssystemen, «Wolf Pack» und «Blue Wolf», verbunden ist. «Wolf Pack» ist eine riesige Datenbank, die alle verfügbaren Informationen über Palästinenser*innen aus den besetzten Gebieten enthält, einschliesslich Angaben über Wohnort, Familienangehörige und der Angabe, ob sie von den israelischen Behörden zur Vernehmung gesucht werden. «Blue Wolf» ist eine App, auf die die israelischen Streitkräfte über Smartphones und Tablets zugreifen können und die sofort die in der «Wolf Pack»-Datenbank gespeicherten Informationen abrufen kann.
Wenn Palästinenser*innen einen Kontrollpunkt passieren, an dem «Red Wolf» im Einsatz ist, werden ihre Gesichter ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung gescannt und mit biometrischen Einträgen in Datenbanken verglichen, die ausschliesslich Informationen über Palästinenser*innen enthalten. «Red Wolf» verwendet diese Daten, um festzustellen, ob eine Person einen Kontrollpunkt passieren darf, und erfasst automatisch jedes neu gescannte Gesicht biometrisch. Gibt es keinen Eintrag für eine Person, wird ihr die Durchfahrt verweigert. «Red Wolf» kann die Einreise auch auf der Grundlage anderer Informationen verweigern, die in palästinensischen Profilen gespeichert sind, z. B. wenn eine Person zur Befragung oder Verhaftung gesucht wird.
Ein israelischer Kommandant, der in Hebron stationiert ist, sagte gegenüber Breaking the Silence aus, dass Soldat*innen damit beauftragt sind, den Gesichtserkennungsalgorithmus von «Red Wolf» zu trainieren und zu optimieren, damit er Gesichter ohne menschliches Zutun erkennen kann.
Amnesty International hat anhand von Aussagen von Militärangehörigen dokumentiert, wie die Überwachung von Palästinenser*innen zu einem Spiel geworden ist. Zwei Soldaten, die 2020 in Hebron stationiert waren, berichteten, dass die «Blue-Wolf»-App auf der Grundlage der Anzahl der registrierten Palästinenser*innen eine Rangliste erstellt, wobei die israelischen Kommandeure Preise für das Bataillon mit der höchsten Punktzahl bereitstellen. Auf diese Weise erhalten die israelischen Soldat*innen einen Anreiz, die Palästinenser*innen unter ständiger Beobachtung zu halten.
Kameras sind überall
Amnesty International hat dokumentiert, wie Israels Gesichtserkennungssysteme durch eine riesige physische Infrastruktur von Überwachungsgeräten unterstützt werden.
In Hebron sind Kameras an Strassen, an Gebäuden, Laternenpfählen, Überwachungstürmen und Dächern angebracht. Für die Palästinenser*innen hat die allgegenwärtige Überwachung das Gefühl verstärkt, dass einige Bereiche von H2 für sie tabu sind − selbst Bereiche, die nur wenige Meter von ihren Häusern entfernt sind.
Eyad, ein Bewohner des Viertels Tel Rumeida in der Nähe des schwer ausgerüsteten Checkpoint 56, beschrieb, wie die israelischen Soldat*innen «Red Wolf» nutzen, um die Bewohner*innen daran zu hindern, in ihre Häuser zurückzukehren: «Sie [die israelischen Soldat*innen] können dir sagen, dass dein Name nicht in der Datenbank steht, so einfach ist das, und dann darfst du nicht zu deinem Haus gehen.»
Im besetzten Ostjerusalem betreibt Israel ein Netz von Tausenden von CCTV-Kameras in der Altstadt, das als «Mabat 2000» bekannt ist. Seit 2017 haben die israelischen Behörden dieses System aufgerüstet. Amnesty International hat in einem Gebiet von 10 Quadratkilometern im besetzten Ostjerusalem, einschliesslich der Altstadt und Sheikh Jarrah, eine Kartierung der Überwachungskameras vorgenommen und festgestellt, dass alle fünf Meter ein bis zwei Überwachungskameras vorhanden sind.
Die israelischen Behörden haben mit den neuen Überwachungsinstrumenten gezielt Orte von kultureller und politischer Bedeutung ins Visier genommen, wie z. B. das Damaskustor am Eingang zur Altstadt, das seit langem ein Ort ist, an dem sich Palästinenser*innen treffen und Proteste abhalten.
Diese Massenüberwachung verstösst gegen das Recht auf Privatsphäre, Gleichheit und Nichtdiskriminierung. Sie hat auch eine abschreckende Wirkung auf das Recht auf freie Meinungsäusserung und das Recht, sich friedlich zu versammeln, da sie die Palästinenser*innen davon abhält, zu protestieren, und ein Klima der Angst und Repression verschärft.
Ein palästinensischer Journalist erklärte gegenüber Amnesty International: «Diejenigen, die demonstrieren, wissen, dass ihre Gesichter von den Kameras aufgenommen werden und sie später verhaftet werden können, selbst wenn sie nicht an Ort und Stelle festgenommen werden.»
In den Stadtvierteln Sheikh Jarrah und Silwan hat die Zahl der Überwachungskameras nach den Protesten von 2021 gegen die Zwangsräumung palästinensischer Familien erheblich zugenommen. Amnesty International hat dokumentiert, wie die kontinuierliche Ausweitung der Überwachung im besetzten Ostjerusalem dazu beiträgt, die Kontrolle über die Palästinenser*innen zu zementieren und die unrechtmässigen Sicherheitsziele der illegalen Siedler*innen zu fördern: Die Überwachung schreckt nicht nur Proteste gegen den Siedlungsausbau ab, israelische Behörden und Siedler*innen haben auch zusätzliche Überwachungsinfrastrukturen in der Nähe illegaler Siedlungen eingerichtet.
Hersteller*innen müssen Sorgfaltspflicht einhalten
Amnesty International kann nicht mit Sicherheit sagen, welche Unternehmen israelische Behörden mit Gesichtserkennungssoftware beliefern. Die Forscher*innen identifizierten jedoch die Hersteller*innen mehrerer Kameras, die sie im besetzten Ostjerusalem fanden. Sie dokumentierten hochauflösende CCTV-Kameras des chinesischen Unternehmens Hikvision, die in Wohngebieten und an militärischer Infrastruktur installiert sind; einige dieser Modelle können nach Angaben von Hikvision mit externer Gesichtserkennungssoftware verbunden werden. Amnesty International hat auch Kameras des niederländischen Unternehmens TKH Security identifiziert, die im öffentlichen Raum und an der Infrastruktur der Polizei angebracht sind.
Amnesty International wandte sich schriftlich an beide Unternehmen und äusserte die Besorgnis über das Risiko, dass ihre Produkte zusammen mit dem «Mabat-2000»-System für die Gesichtserkennung von Palästinenser*innen eingesetzt werden könnten und mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht werden. Amnesty International bat auch um Informationen über die Sorgfaltspflicht der Unternehmen. Beide Unternehmen waren nicht in der Lage zu beschreiben, wie sie ihrer menschenrechtlichen Verantwortung für diese risikoreichen Verkäufe nachgekommen sind bzw. derzeit nachkommen.
Laut der Website von TKH Security wurde 2017 ein israelisches Unternehmen namens Mal-Tech Technological Solutions (Mal-Tech) zum offiziellen Vertriebspartner für den israelischen Markt. In der Antwort an Amnesty International erklärte TKH Security, dass es «in den letzten Jahren keine Geschäfte mit Mal-Tech gemacht hat» und dass es derzeit keine direkten Geschäftsbeziehungen zu israelischen Sicherheitskräften unterhält. TKH Security reagierte nicht auf weitere Nachfragen von Amnesty International. Hikvision hat auf keine der Fragen von Amnesty International geantwortet.
«Hikvision und TKH Security müssen sich verpflichten, sicherzustellen, dass ihre Technologien nicht dazu verwendet werden, Israels Apartheidsystem gegen Palästinenser*innen aufrechtzuerhalten oder weiter zu festigen», sagte Agnès Callamard. «Sie müssen aufhören, Technologien zu liefern, die von israelischen Behörden zur Aufrechterhaltung illegaler Siedlungen verwendet werden, und sicherstellen, dass sie nur an Kund*innen verkaufen, die die Menschenrechte einhalten.»
Hintergrund
Im Jahr 2022 dokumentierte Amnesty International in einen Bericht, wie Israel ein institutionalisiertes System der Unterdrückung und Beherrschung von Palästinenser*innen durchsetzt, das nach internationalem Recht der Apartheid gleichkommt. Dieses System wird Palästinenser*innen überall dort auferlegt, wo Israel die Kontrolle über ihre Rechte hat, und wird durch Menschenrechtsverstösse aufrechterhalten, die unter dem Römischen Statut und der Apartheid-Konvention ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.
Nach den internationalen Menschenrechtsnormen muss ein staatlicher Eingriff in das Recht auf Privatsphäre ein nachweislich notwendiges und verhältnismässiges Mittel sein, um ein legitimes Ziel zu erreichen. Israels Einsatz von Überwachungsmassnahmen gegen Palästinenser*innen erfüllt diese Kriterien nicht. Die Überwachung trägt dazu bei, die Bewegungsfreiheit im Kontext der anhaltenden Besatzung, der illegalen Besiedlung und der Annexion einzuschränken, die Segregation und Zersplitterung des palästinensischen Volkes zu verstärken und letztlich das israelische Apartheidsystem aufrechtzuerhalten.