In der ersten Ankündigung der israelischen Armee wurde den Menschen eine Frist von 24 Stunden eingeräumt, um den nördlichen Gazastreifen «zu ihrer Sicherheit und ihrem Schutz» zu verlassen − eine unmögliche Forderung. Selbst der Sprecher der israelischen Armee hat zugegeben, dass die Evakuierung von Gaza nicht an einem Tag umgesetzt werden kann. Ungeachtet des Zeitrahmens reicht dieser Befehl nicht, um eine komplette Feuerfreigabe für den nördlichen Gazastreifen anzuordnen. Die israelischen Streitkräfte sind verpflichtet, alle möglichen Vorkehrungen zu treffen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten, wo immer sie sich in Gaza aufhalten.
«Mit diesem Befehl setzen die israelischen Streitkräfte die massenhafte Zwangsvertreibung von mehr als 1,1 Millionen Menschen aus Gaza-Stadt und dem gesamten nördlichen Teil des Gazastreifens in Gang. Die Anordnung hat die Bevölkerung in Panik versetzt. Tausende intern vertriebene Palästinenser*innen schlafen nun auf den Strassen und wissen nicht, wohin sie fliehen sollen oder wo sie Sicherheit finden können. Dieser Befehl muss sofort zurückgenommen werden», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.
Seit dem 7. Oktober wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums bei israelischen Angriffen mehr als 1500 Menschen im Gazastreifen getötet und über 6600 verletzt. Die tatsächliche Zahl der Todesopfer dürfte noch viel höher sein, da die Familien damit zu kämpfen haben, die Leichen ihrer Angehörigen aus den Trümmern zu bergen. Die Angriffe erfolgten als Vergeltung für einen schrecklichen Angriff, bei dem die Hamas und andere bewaffnete Gruppen wahllos Raketen abfeuerten, Zivilist*innen als Geiseln nahmen oder ermordeten. Nach Angaben des israelischen Gesundheitsministeriums wurden mindestens 1200 israelische Bürger*innen getötet und 3436 verletzt.
Seit Beginn der Kämpfe wurden nach Angaben des Uno-Büros für die Koordination humanitärer Angelegenheiten von den 2,2 Millionen Einwohner*innen des Gazastreifens bereits mehr als 532‘000 Palästinenser*innen im Gazastreifen vertrieben.
«Die Zivilbevölkerung in Gaza darf nicht als politischer Spielball benutzt werden.» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
«Israels Verbündete und Geberstaaten müssen dringend die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und den Schutz der Zivilbevölkerung fordern. Die Zivilbevölkerung in Gaza darf nicht als politischer Spielball benutzt werden. Die internationale Gemeinschaft muss davon absehen, die seit 16 Jahren andauernde illegale Blockade Israels weiter zu legitimieren, und den Transfer von Waffen, die für rechtswidrige Angriffe verwendet werden könnten, sofort stoppen», sagte Agnès Callamard.
Humanitäre Katastrophe zeichnet sich ab
Die Strassen im nördlichen Gazastreifen wurden durch israelische Luftangriffe schwer beschädigt, es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel, und aufgrund der Verschärfung der bestehenden Blockade ist der Treibstoff knapp.
Ein Bewohner beschrieb Szenen von Chaos und Panik, als die Menschen versuchten, durch die zerstörten Strassen im nördlichen Gazastreifen zu fliehen: «Eine einstündige Fahrt fühlte sich an wie 30 Jahre. Wir mussten viele Male die Route ändern... Alle rennen um ihr Leben, es ist der reinste Horror. Kinder weinen und haben Angst.»
Aufgrund der zerstörten Strassen und des Treibstoffmangels sind die Rettungsteams nicht in der Lage, Gebiete im nördlichen Gazastreifen zu erreichen, um Hunderte von Leichen auszugraben, die aufgrund der jüngsten israelischen Luftangriffe noch immer unter den Trümmern liegen.
«Wir versuchen, die Leichen von Kindern mit unseren eigenen Händen zu bergen. Die Bulldozer können das Gebiet nicht erreichen, um die Trümmer zu beseitigen. Ich bin seit drei Tagen hier, seit dem Bombardement. 19 Mitglieder meiner Familie wurden getötet, und ich konnte nur die Leiche meiner Schwiegertochter und die Schulter meines Sohnes bergen», sagte Fawzi Naffar, ein Überlebender eines israelischen Luftangriffs auf das Viertel Sheikh Radwan in Gaza-Stadt, bei dem mindestens 40 Zivilist*innen getötet wurden, gegenüber Amnesty International.
Die Organisation hat bereits dokumentiert, wie eine Reihe von Familien aus ihren Häusern in vermeintlich sichere Gebiete geflohen sind, die aber schliesslich bombardiert wurden. Die Organisation sprach mit einem Mann, der am 8. Oktober im Morgengrauen mit seiner Familie zu Fuss aus Beit Hanoun floh, um in einer vom UNRWA betriebenen Schule in Jabalia Schutz zu suchen. Sein 19-jähriger Sohn wurde dann bei einem Angriff auf einer Marktstrasse in Jabalia getötet, als er Brot für seine Familie kaufen wollte.
Unter den bereits Vertriebenen sind auch Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten. Die Organisation sprach mit Frauen und Mädchen mit Behinderungen, die zu Fuss aus ihren Häusern flohen. In ständiger Angst vor Bombardierungen gingen sie stundenlang zu Fuss, um in vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) betriebenen Schulen im nördlichen Gazastreifen Zuflucht zu finden. Sie sind nicht in der Lage, die weitere Reise in den südlichen Gazastreifen anzutreten, wo viele Unterkünfte bereits an ihre Kapazitätsgrenzen gestossen sind. Der Schutz dieser Zivilpersonen muss eine Priorität sein.
Furcht vor einer «zweiten Nakba»
Die Mehrheit der Bevölkerung des Gazastreifens sind Nachkommen von Flüchtlingen, die während des Konflikts von 1947-49, bei dem mehr als 750‘000 Palästinenser*innen gewaltsam aus ihren Städten und Dörfern vertrieben wurden − die damalige Vertreibung wird von den Palästinenser*innen als Nakba (Katastrophe) bezeichnet.
Während viele Palästinenser*innen im nördlichen Gazastreifen versuchen zu fliehen, haben andere gegenüber Amnesty International erklärt, dass sie sich dafür entscheiden zu bleiben, weil sie befürchten, dass dies zu einer «zweiten Nakba» werden könnte.
«Unsere Eltern wurden 1948 während der Nakba aus ihren Häusern vertrieben. Wir haben unser Haus verloren, das bei der Offensive im August 2022 zerstört wurde; unser wiederaufgebautes Haus wurde erneut zerstört... Unser ganzes Leben lang haben wir nichts anderes als eine Reihe von Vertreibungen erlebt», sagte Munir Radwan, ein Universitätsprofessor, gegenüber Amnesty.
Ein*e andere*r Bewohner*in des Gazastreifens sagte: «Wir sind 2023 eingeschlafen und 1948 wieder aufgewacht».
«Die internationale Gemeinschaft kann nicht schweigend zusehen, wie die israelischen Streitkräfte mehr als eine Million Palästinenser*innen rechtswidrig aus ihren Häusern vertreiben. Israels Zwangsvertreibung der Zivilbevölkerung des Gazastreifens muss sofort gestoppt werden», sagte Agnes Callamard.
Die bewaffneten palästinensischen Gruppen müssen unverzüglich alle zivilen Geiseln freilassen und den wahllosen Raketenbeschuss auf Israel unterlassen. Israel muss sich an die Grundsätze des Völkerrechts halten.
Amnesty International fordert Israel und alle bewaffneten palästinensischen Gruppen auf, ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Zivilbevölkerung nachzukommen. Die bewaffneten palästinensischen Gruppen müssen unverzüglich alle zivilen Geiseln freilassen und den wahllosen Raketenbeschuss auf Israel unterlassen. Israel muss sich an die Grundsätze des Völkerrechts halten, einschliesslich der Grundsätze der Verhältnismässigkeit und der Unterscheidung, und von kollektiver Bestrafung, Vergeltung und Vertreibung absehen.
Amnesty International ist eine unparteiische Menschenrechtsorganisation und setzt sich dafür ein, dass alle an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsnormen einhalten. Amnesty International wird weiterhin untersuchen, ob palästinensische bewaffnete Gruppen und israelische Streitkräfte die Regeln des humanitären Völkerrechts einhalten, indem sie unter anderem die notwendigen Vorkehrungen treffen.