Amnesty International und 95 weitere Organisationen äussern in einem offenen Brief ihre Besorgnis über die Auswirkungen solcher diskriminierenden Massnahmen auf die Menschenrechte.
«Die Menschenrechte in Israel und in den besetzten palästinensischen Gebieten (OPT) befinden sich in einer tiefen Krise. Palästinensische und israelische Organisationen in der Region leisten wichtige Arbeit, um die Rechte der Menschen zu schützen. Einige überwachen die systematischen Verstösse der israelischen Behörden gegen die Rechte der Palästinenser*innen, andere bieten Opfern, die sonst keine Unterstützung bei ihrer Suche nach Gerechtigkeit erhalten würden, eine kostenlose Rechtsvertretung. Die Finanzierung ausschliesslich palästinensischer Organisationen einzuschränken, ist diskriminierend. Sie droht die Organisationen zum Schweigen zu bringen und ihre wichtige Arbeit zu behindern. Opfer von Menschenrechtsverletzungen drohen ohne jeglichen Schutz dazustehen», sagte Eve Geddie, Direktorin des Büros der europäischen Institutionen bei Amnesty International.
Mehrere europäische Länder, darunter Österreich, Dänemark, Deutschland, Schweden und die Schweiz, sowie die Europäische Kommission haben Massnahmen ergriffen, um die Finanzierung palästinensischer zivilgesellschaftlicher Organisationen auszusetzen oder einzuschränken. Sie taten dies auf der Grundlage unbegründeter Anschuldigungen, dass Gelder an «terroristische Organisationen» umgeleitet oder für «Aufstachelung zu Hass und Gewalt» verwendet würden.
Solche Behauptungen befördern seit langem bestehende rassistische und islamophobe Stereotype, die arabische und muslimische Menschen als gewaltbereit und als potenzielle Terrorist*innen darstellen. Einige Massnahmen zur Aussetzung der Finanzierung palästinensischer NGOs erfolgten bereits lange vor den Anschlägen vom 7. Oktober 2023, bei denen Mitglieder der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen Kriegsverbrechen und andere Verstösse gegen das Völkerrecht begingen, einschliesslich rechtswidriger Tötungen, Geiselnahmen von Zivilist*innen und wahlloser Raketenangriffe auf Israel. Seitdem haben sich die Beschränkungen jedoch verschärft.
EU praktiziert Doppelmoral
Die Europäische Kommission teilte am 21. November 2023 mit, dass «bisher keine Beweise dafür gefunden wurden, dass Gelder für unbeabsichtigte Zwecke abgezweigt wurden». Trotzdem kündigte sie die Einführung von Klauseln «gegen Aufwiegelung» in allen neuen Verträgen mit palästinensischen NGOs an. Diese sollen die Empfänger*innen von Finanzmitteln dazu verpflichten, zu erklären, dass sie nicht zum Hass aufstacheln werden, und sie einer «Überwachung durch Dritte» unterziehen, um die Einhaltung der Klausel sicherzustellen. Die Klausel ist zwar an sich nicht problematisch, aber die Anwendung einer solchen Klausel nur auf palästinensische NGOs stigmatisiert Palästinenser*innen und befördert Vorurteile und Hass.
«Es ist wichtig, dass die europäischen Geberländer die Rechenschaftspflicht und Transparenz aller Partnerorganisationen sicherstellen. Aber die ausschliessliche Erwähnung palästinensischer NGOs sowie der Zeitpunkt und die Gründe für die Ankündigungen, die Finanzierung einzuschränken, werfen beunruhigende Fragen auf. Warum beschränken die Geberstaaten die Finanzierung von ausschliesslich palästinensischen NGOs? Und warum müssen sich palästinensische zivilgesellschaftliche Organisationen, die Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Regierung dokumentieren, immer wieder gegen den Vorwurf des Antisemitismus und der Unterstützung von Gewalt gegen den Staat Israel verteidigen, obwohl bei wiederholten Untersuchungen keine derartigen Beweise gefunden wurden?», sagte Eve Geddie.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen unbedingt alle Formen von Rassismus und anderer Diskriminierung, einschliesslich Antisemitismus, Islamophobie, antiarabischem und antipalästinensischem Rassismus, bekämpfen und alle erforderlichen Massnahmen ergreifen, um das Befürworten von Hass, der eine Aufstachelung zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt darstellt, zu verbieten.
Die Empfänger*innen von EU-Geldern waren bereits verpflichtet, diese Grundsätze einzuhalten. Die Aufnahme von «Anti-Aufwiegelungs»-Klauseln in Verträge mit palästinensischen Organisationen und die Unterwerfung dieser Organisationen unter die «Überwachung durch Dritte» riecht nach politischem Kalkül, ist diskriminierend und verstärkt rassistische Annahmen gegenüber Palästinenser*innen und denjenigen, die die Menschenrechte der Palästinenser*innen verteidigen.
Schweden hat beispielsweise erklärt, dass es von seinen palästinensischen Partnerorganisationen in Zukunft verlangen wird, die Hamas zu verurteilen. Von einer Organisation eine solche Verurteilung zu verlangen und die Finanzierung davon abhängig zu machen, ist ein Angriff auf das Menschenrecht auf freie Meinungsäusserung und Vereinigungsfreiheit und insofern diskriminierend, als es ausschliesslich auf Organisationen abzielt, die sich für Palästina einsetzen.
Obwohl israelische Regierungsvertreter*innen und Nichtregierungsorganisationen in ungeheuerlicher Weise dazu aufrufen, Palästinenser zu töten, gewaltsam zu vertreiben oder Atomwaffen gegen sie einzusetzen, und obwohl israelische Streitkräfte und Siedler*innen wiederholt tödliche Angriffe auf Zivilist*innen verüben und sogar Nichtregierungsorganisationen illegale Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten bauen, gibt es keine vergleichbaren Anforderungen an israelische Organisationen oder Regierungsstellen, die mit Schweden zusammenarbeiten, diese Verbrechen zu verurteilen.
Diese eklatante Doppelmoral ist nicht nur diskriminierend, sondern zeugt auch von einem besorgniserregend selektiven Umgang mit den Menschenrechten.
Die Schweizer Regierung, die beschlossen hat, ihren Vertrag mit drei palästinensischen NGOs zu kündigen, hat nicht erklärt, welche Aussagen der betroffenen NGOs nach internationalem Recht als Hassrede gelten. Diese Transparenz wäre jedoch notwendig gewesen, um eine solche Massnahme zu begründen.
In der aktuellen Lage die Finanzierung für wichtige Menschenrechtsorganisationen einzustellen widerspricht den Prioritäten der Schweizer Aussenpolitik, welche mitunter den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen ins Zentrum stellt.
Missbrauch von Antisemitismus als Mittel der Unterdrückung
Die Bekämpfung von Antisemitismus und Hassreden ist enorm wichtig, aber in den letzten Jahren haben israelische Behörden und Regierungsvertreter*innen aus einer Reihe von Ländern in Europa – insbesondere Deutschland und Ungarn – sowie die EU-Kommissare Verheyli und Schinas unbegründete Antisemitismusvorwürfe dazu benutzt, um Kritik an israelischen Verstössen gegen das Völkerrecht und dem andauernden System der Apartheid gegen die Palästinenser*innen zu unterdrücken.
Selbst jetzt, da die israelischen Streitkräfte mindestens 14’128 Zivilpersonen, darunter mehr als ein Drittel Kinder, getötet und mehr als 1,2 Millionen Palästinenser*innen gewaltsam vertrieben haben, wird der Vorwurf des Antisemitismus benutzt, um diejenigen zum Schweigen zu bringen und in einigen Fällen zu kriminalisieren, die sich mit den Palästinenser*innen solidarisieren und für deren Rechte eintreten. Das trifft auch jüdische Aktivist*innen.
Israelische Beamte haben sogar den Vorwurf des Antisemitismus benutzt, um die Tötung palästinensischer Zivilist*innen zu rechtfertigen, indem sie behaupteten, dass Palästinenser*innen in Gaza eine Nazi-Ideologie unterstützten.
«Angesichts des zunehmenden Antisemitismus sind die europäischen Staats- und Regierungschefs verpflichtet, Massnahmen zum Schutz der jüdischen Bevölkerung zu ergreifen. Allerdings ist es kontraproduktiv, das Eintreten für die Rechte der Palästinenser*innen mit Antisemitismus in einen Topf zu werfen und Palästinenser*innen und arabische Personen für die Zunahme des Antisemitismus verantwortlich zu machen», sagte Eve Geddie.
«Jüngste unbegründete und diskriminierende Äusserungen deutscher, österreichischer und ungarischer Politiker*innen stigmatisieren Migrant*innen aus Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, indem sie sie für den zunehmenden Antisemitismus in Europa verantwortlich machen. Auch die zusätzlichen Anforderungen der EU nur für palästinensische Empfänger*innen von Fördermitteln, basieren auf diskriminierenden und rassistischen Stereotypen.»
«Die Glaubwürdigkeit der europäischen Staaten, die behaupten, für die Menschenrechte einzutreten, wurde bereits dadurch geschwächt, dass sie nicht zu einem Waffenstillstand aufgerufen haben und Israel zum Teil weiterhin bewaffnen, während es ungestraft Tausende von Palästinenser*innen tötet. Die diskriminierenden Finanzierungsbeschränkungen für NGOs schaden der Glaubwürdigkeit noch mehr und zeugen von Doppelmoral», sagte Eve Geddie.
«Wir fordern europäische Länder, die EU und andere Geberstaaten auf, dafür zu sorgen, dass die Finanzierung palästinensischer NGOs wieder aufgenommen wird, ohne unnötige und diskriminierende Beschränkungen. Wenn sie der Meinung sind, dass die derzeitigen Schutzmassnahmen nicht ausreichen, um gegen Aufwiegelung zu Hass vorzugehen, dann sollte sie strengere Klauseln für alle Verträge einführen – auch mit Israel und innerhalb Europas –, anstatt die Palästinenser*innen aus rassistischen Gründen auszugrenzen oder eine Politik und Gesetze zu unterstützen, die die Menschenrechte untergraben.»