© Amnesty International
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Israel/Besetzte palästinensische Gebiete – Ganze Familien durch israelische Luftangriffe ausgelöscht Erdrückende Hinweise auf Kriegsverbrechen

Medienmitteilung 20. Oktober 2023, London/Bern – Medienkontakt
Angriffe der israelischen Luftwaffe auf Ziele im Gaza-Streifen müssen als Kriegsverbrechen untersucht und verfolgt werden, fordert Amnesty International. Die Menschenrechtsorganisation hat mehrere unrechtmässige und wahllose Bombardierungen dokumentiert, die zu massiven Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt haben.

Amnesty International sprach mit Überlebenden und Augenzeugen, analysierte Satellitenbilder und überprüfte Fotos und Videos von Luftangriffen der israelischen Streitkräfte, die sich zwischen dem Beginn der massiven Bombardements am 7. Oktober und dem 12. Oktober ereigneten. Diese Luftangriffe verursachten schreckliche Zerstörungen und löschten in einigen Fällen ganze Familien aus.

Fünf dieser rechtswidrigen Angriffe hat Amnesty International eingehend analysiert (Link auf ausführlichere Pressemitteilung mit Augenzeugenberichten in englischer Sprache). In jedem dieser Fälle verletzten die israelischen Angriffe das humanitäre Völkerrecht, insbesondere weil nicht die notwendigen Vorkehrungen getroffen wurden, um die Zivilbevölkerung zu schonen, weil es sich um wahllose Angriffe handelte, bei denen nicht zwischen Zivilist*innen und militärischen Zielen unterschieden wurde, oder weil sie wahrscheinlich gegen zivile Objekte gerichtet waren.

Ein Wohngebäude nach dem andern in Schutt und Asche gelegt

«Unter der erklärten Absicht, die Hamas mit allen Mitteln zu vernichten, haben die israelischen Streitkräfte eine schockierende Missachtung des Lebens von Zivilpersonen an den Tag gelegt. Sie haben ein Wohngebäude nach dem anderen in Schutt und Asche gelegt und dabei massenhaft Zivilpersonen getötet und lebenswichtige Infrastruktur zerstört, während neue Verschärfungen der Blockade dazu führen, dass dem Gazastreifen das Wasser, die Medikamente, der Treibstoff und der Strom ausgehen. Berichte von Augenzeug*innen und Überlebenden machen deutlich, wie die israelischen Angriffe ganze Familien dezimierten. Den Hinterbliebenen blieb wenig mehr als Trümmer, um ihrer Angehörigen zu gedenken», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.

«Die fünf von Amnesty beschriebenen Fälle zeigen nur einen ersten Teil des Grauens, das Amnesty dokumentiert hat. Doch sie veranschaulichen die verheerenden Auswirkungen der israelischen Bombardements auf die Menschen in Gaza. 16 Jahre lang hat Israels rechtswidrige Blockade den Gazastreifen zum grössten Freiluftgefängnis der Welt gemacht – die internationale Gemeinschaft muss jetzt handeln, um zu verhindern, dass er zu einem riesigen Friedhof wird», sagte Agnès Callamard.

Vernichtende Hinweise auf Kriegsverbrechen

«Wir fordern die israelischen Streitkräfte auf, die rechtswidrigen Angriffe im Gazastreifen unverzüglich einzustellen und alle erdenklichen Vorkehrungen zu treffen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung und die Beschädigung von zivilen Objekten so gering wie möglich zu halten. Israels Verbündete müssen sofort ein umfassendes Waffenembargo verhängen, da hier schwere Verstösse gegen das Völkerrecht begangen werden.»

Die israelische Armee behauptet, sie greife nur militärische Ziele an, aber bei den untersuchen Angriffen auf ein Wohngebäude, ein Flüchtlingslager, ein Einfamilienhaus und einen öffentlichen Markt fand Amnesty International zum Zeitpunkt der Angriffe keine Beweise für die Anwesenheit von Bewaffneten oder anderen militärischen Ziele in unmittelbarer Nähe.

Amnesty International stellte ausserdem fest, dass das israelische Militär vor den Angriffen nicht alle denkbaren Vorsichtsmassnahmen ergriffen hat, u. a. indem es die Zivilbevölkerung nicht wirksam vorgewarnt hat – in einigen Fällen wurden Zivilist*innen überhaupt nicht gewarnt, in anderen Fällen nur unzureichend.

Zwischen 2012 und 2022 haben die israelischen Behörden alle Ersuchen von Amnesty International, Zugang zum Gazastreifen zu erhalten, abgelehnt oder nicht darauf reagiert. Aus diesem Grund hat die Organisation mit einem*r im Gazastreifen ansässigen Feldforscher*in zusammengearbeitet, der*die die Schauplätze der Angriffe besuchte, Zeugenaussagen aufnahm und andere Beweise sammelte.

Krisen-Expert*innen von Amnesty International befragten 17 Überlebende und andere Augenzeug*innen sowie sechs Angehörige von Opfern telefonisch zu den fünf in diesem Bericht behandelten Fällen. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International analysierte Satellitenbilder und verifizierte Fotos und Videos von Anschlagsorten.

Angriffe auf zivile Ziele

Als Kernprinzip des humanitären Völkerrechts (das internationale Kriegsrecht) müssen Konfliktparteien stets zwischen Zivilpersonen und zivilen Objekten einerseits und Militärangehörigen und militärischen Objekten andererseits unterscheiden. Direkte Angriffe auf Zivilpersonen oder zivile Objekte sind verboten und stellen Kriegsverbrechen dar.

Wahllose Angriffe, bei denen nicht wie erforderlich unterschieden wird, sind ebenfalls verboten. Wenn bei einem wahllosen Angriff Zivilpersonen getötet oder verletzt werden, handelt es sich um ein Kriegsverbrechen. Unverhältnismässige Angriffe, d. h. Angriffe, bei denen der zu erwartende Schaden für die Zivilbevölkerung und zivile Objekte im Vergleich zu dem «erwarteten konkreten und direkten militärischen Vorteil» übermässig hoch ist, sind ebenfalls verboten. Die wissentliche Durchführung eines unverhältnismässigen Angriffs ist ein Kriegsverbrechen.

«Unsere Nachforschungen deuten auf vernichtende Beweise für Kriegsverbrechen im Rahmen des israelischen Bombardements hin, die dringend untersucht werden müssen», sagte Agnès Callamard. «Jahrzehntelange Straflosigkeit und Ungerechtigkeit sowie das beispiellose Ausmass an Tod und Zerstörung im Rahmen der aktuellen Offensive werden nur zu weiterer Gewalt und Instabilität in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten führen», sagte Agnès Callamard.

«Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs ihre laufenden Ermittlungen zu dem Nachweis von Kriegsverbrechen und anderen Völkerrechtsverbrechen durch alle Parteien dringend vorantreibt. Ohne Gerechtigkeit und die Abschaffung des israelischen Apartheidsystems gegen die Palästinenser*innen kann es kein Ende des entsetzlichen zivilen Leids geben, das wir derzeit beobachten.»

Anhaltende schwere Luftangriffe

Seit dem 7. Oktober haben die israelischen Streitkräfte Tausende von Luftangriffen auf den Gazastreifen geflogen und dabei laut Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza mindestens 3793 Menschen getötet. Zumeist handelte es sich um Zivilpersonen, darunter mehr als 1500 Kinder. Etwa 12‘500 Menschen wurden demnach verletzt, und mehr als 1000 Tote seien noch unter den Trümmern verschüttet.

Die Luftangriffe Israels sind eine Reaktion auf den beispiellosen Angriff auf Israel am 7. Oktober durch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen. Sie hatten wahllos Tausende von Raketen auf Israel abgefeuert und Kämpfer in den Süden Israels geschickt, die dort abscheuliche Kriegsverbrechen begingen – darunter die vorsätzliche Tötung von Zivilpersonen und brutale Geiselnahmen.

Nach Angaben des israelischen Gesundheitsministeriums wurden in Israel mehr als 1400 Menschen getötet, die meisten von ihnen Zivilpersonen. Etwa 3300 Personen wurden verletzt. Nach Angaben des israelischen Militärs verschleppten Hamas-Kämpfer zudem mehr als 200 zivile Geiseln und militärische Gefangene in den Gazastreifen.

«Amnesty International fordert die Hamas und andere bewaffnete Gruppen auf, dringend alle zivilen Geiseln freizulassen und den wahllosen Raketenbeschuss unverzüglich einzustellen. Die vorsätzliche Tötung von Zivilpersonen ist unter keinen Umständen zu rechtfertigen», sagte Agnès Callamard.

Wenige Stunden nach Beginn der Angriffe begannen die israelischen Streitkräfte mit der massiven Bombardierung des Gazastreifens. Auch die Hamas und andere bewaffnete Gruppen feuerten weiterhin wahllos Raketen auf zivile Gebiete in Israel ab – Angriffe, die ebenfalls als Kriegsverbrechen untersucht werden müssen.

Im besetzten Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, wurden inzwischen mindestens 79 Palästinenser*innen, darunter 20 Kinder, von israelischen Streitkräften oder Siedler*innen getötet, wobei die israelische Armee immer häufiger exzessive Gewalt anwendet und die staatlich unterstützte Siedlergewalt eskaliert. Auch dies untersucht Amnesty International.

Belagerung des Gazastreifens muss beendet werden

Die unerbittliche Bombardierung des Gazastreifens hat unvorstellbares Leid über die Menschen gebracht, die sich bereits in einer schweren humanitären Krise befinden. Nach 16 Jahren unter der rechtswidrigen israelischen Blockade ist das Gesundheitssystem des Gazastreifens dem Zusammenbruch nahe, und die Wirtschaft liegt am Boden. Die Spitäler kollabieren, weil sie die schiere Zahl der Verwundeten nicht mehr bewältigen können und es an lebensrettenden Medikamenten und Geräten fehlt.

Amnesty International appelliert an die internationale Gemeinschaft, Israel zu drängen, die lückenlose Belagerung zu beenden, durch die die Bevölkerung des Gazastreifens von Lebensmitteln, Wasser, Strom und Treibstoff abgeschnitten ist, und dringend humanitäre Hilfe nach Gaza zuzulassen.

Ausserdem müssen sie Israel dazu drängen, die seit langem bestehende Blockade des Gazastreifens aufzuheben. Sie kommt einer kollektiven Bestrafung der Zivilbevölkerung gleich, stellt ein Kriegsverbrechen dar und ist ein wesentlicher Bestandteil des israelischen Apartheidsystems. Schliesslich müssen die israelischen Behörden ihren «Evakuierungsbefehl» zurücknehmen, der einer rechtswidrigen Vertreibung der Bevölkerung gleichkommen könnte.

Amnesty International fordert die israelischen Behörden auf:
  • Rechtswidrige Angriffe unverzüglich zu beenden und das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, u. a. indem die israelischen Behörden alle erdenklichen Vorkehrungen treffen, um die Verletzung der Zivilbevölkerung und die Beschädigung von zivilen Objekten so gering wie möglich zu halten, und von direkten Angriffen auf Zivilpersonen und zivile Objekte sowie von wahllosen und unverhältnismässigen Angriffen absehen.
  • Die ungehinderte Lieferung von humanitärer Hilfe an die Zivilbevölkerung im Gazastreifen sofort zu ermöglichen.
  • Die rechtswidrige Blockade des Gazastreifens, die einer kollektiven Bestrafung gleichkommt und ein Kriegsverbrechen darstellt, angesichts der derzeitigen Verwüstung und der humanitären Erfordernisse dringend aufzuheben.
  • Ihren «Evakuierungsbefehl» zurücknehmen, der bereits mehr als eine Million Menschen vertrieben hat.
  • Der unabhängigen Untersuchungskommission für die besetzten palästinensischen Gebiete der Vereinten Nationen sofortigen Zugang zur Durchführung von Untersuchungen, einschliesslich der Sammlung von zeitkritischen Beweisen und Zeugenaussagen, zu gewähren.
Amnesty International fordert die internationale Gemeinschaft und insbesondere die Verbündeten Israels auf:
  • Konkrete Massnahmen zu ergreifen, um die Zivilbevölkerung im Gazastreifen vor rechtswidrigen Angriffen zu schützen.
  • Ein umfassenden Waffenembargo gegen alle Konfliktparteien zu verhängen, da schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begangen werden, die Völkerrechtsverbrechen darstellen. Alle Staaten müssen die Lieferung von Waffen und militärischem Material an Israel einstellen, einschliesslich damit verbundener Technologien, Teile und Komponenten, technischer Hilfe, Ausbildung sowie finanzieller oder anderer Unterstützung. Sie sollten auch die Staaten, die Waffen an bewaffnete palästinensische Gruppen liefern, auffordern, dies zu unterlassen.
  • Jede Äusserung oder Handlung zu unterlassen, die Israels Verbrechen und Übergriffe im Gazastreifen auch nur indirekt legitimieren würde.
  • Druck auf Israel auszuüben, damit es seine seit 16 Jahren andauernde rechtswidrige Blockade des Gazastreifens aufhebt, die auf eine kollektive Bestrafung der Bevölkerung des Gazastreifens hinausläuft, ein Kriegsverbrechen darstellt und ein wesentlicher Aspekt des israelischen Apartheidsystems ist.
  • Sicherzustellen, dass die laufenden Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs zur Lage in Palästina uneingeschränkt unterstützt werden und alle erforderlichen Mittel erhalten.
Amnesty International fordert das Büro des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs auf:
  • Die laufenden Ermittlungen zur Lage in Palästina dringend zu beschleunigen und dabei die mutmasslichen Verbrechen aller Parteien zu untersuchen, einschliesslich des Verbrechens gegen die Menschlichkeit der Apartheid gegen die Palästinenser*innen.
Amnesty Internation fordert die Hamas und andere bewaffnete Gruppen auf:
  • Die absichtlichen Angriffe auf Zivilpersonen, das wahllose Abfeuern von Raketen und die Geiselnahmen sofort zu beenden. Sie müssen die zivilen Geiseln bedingungslos und unverzüglich freilassen.