Seit Amnesty International vor einem Jahr einen Bericht zu Israels Apartheid gegen die Palästinenser*innen veröffentlicht hat, haben israelische Sicherheitskräfte fast 220 Palästinenser*innen getötet, 35 allein diesen Januar. Widerrechtliche Tötungen, so wie andere schwerwiegende und andauernde Verstösse gegen internationales Recht wie Administrativhaft und Zwangsvertreibungen, tragen zur Aufrechterhaltung des Apartheidsystems bei und stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
Am 26. Januar führten israelische Streitkräfte eine Razzia im Flüchtlingslager Jenin durch und töteten 10 Palästinenser*innen, darunter eine 61-jährige Frau. Am 27. Januar wurden sieben israelische Zivilist*innen getötet, als ein bewaffneter Palästinenser in Neve Ya'akov, einer israelischen Siedlung im besetzten Ostjerusalem, das Feuer eröffnete. Als Reaktion auf diesen Angriff haben die israelischen Behörden die kollektive Bestrafung von Palästinenser*innen verschärft, indem sie Massenverhaftungen durchführten und die Zerstörung von Häusern androhten.
«Die Palästinenser*innen werden tagtäglich ausgegrenzt, kontrolliert und unterdrückt. Dies alles trägt dazu bei, dass sich die tödliche Gewaltspirale weiterdreht.» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
«Die verheerenden Ereignisse der vergangenen Woche haben einmal mehr die tödlichen Folgen des Apartheidsystems aufgezeigt. Das Versäumnis der internationalen Gemeinschaft, die israelischen Behörden für die Apartheid und andere Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, hat den israelischen Behörden freie Hand gegeben: Die Palästinenser*innen werden tagtäglich ausgegrenzt, kontrolliert und unterdrückt. Dies alles trägt dazu bei, dass sich die tödliche Gewaltspirale weiterdreht. Apartheid ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und es ist erschreckend zu sehen, wie sich die Verantwortlichen Jahr für Jahr der Justiz entziehen können», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.
«Die israelische Regierung versucht seit langem, mit gezielten Verleumdungskampagnen Erkenntnisse und Feststellungen zur Apartheid zu unterdrücken, und die internationale Gemeinschaft lässt sich von dieser Taktik einschüchtern. Solange die Apartheid nicht abgeschafft ist, gibt es keine Hoffnung auf Schutz zivilen Lebens und keine Hoffnung auf Gerechtigkeit für trauernde Familien in Palästina und Israel.»
Die israelischen Behörden kontrollieren praktisch jeden Aspekt des Lebens der Palästinenser*innen und setzen sie jeden Tag Unterdrückung und Diskriminierung aus. Die besetzten palästinensischen Gebiete (OPT) sind voneinander getrennte Enklaven; die Palästinenser*innen im Gazastreifen werden komplett von der Welt abgeschottet. Diese nach internationalen Recht illegale israelische Blockade des Küstenstreifens stellt eine Form der kollektiven Bestrafung dar und hat eine humanitäre Krise ausgelöst.
Tägliche Beweise der Apartheid
Am 1. Februar 2022 veröffentlichte Amnesty International einen umfassenden Bericht, in dem dargelegt wird, wie Israel ein institutionalisiertes System der Unterdrückung und Kontrolle gegen die Palästinenser*innen durchsetzt. Der Bericht zeigt auf, wie israelische Gesetze und politische Massnahmen mit dem übergeordneten Ziel erlassen werden, in Israel eine jüdische Bevölkerungsmehrheit sicherzustellen und die Kontrolle über palästinensisches Land und Ressourcen zu maximieren – zum Vorteil jüdischer Israelis und zum Nachteil der Palästinenser*innen.
Nach Angaben der Uno haben Angehörige der israelischen Armee im Jahr 2022 etwa 153 Palästinenser*innen im Westjordanland getötet, darunter Dutzende von Kindern.
Das Jahr 2022 wurde zu einem der tödlichsten Jahre für Palästinenser*innen im Westjordanland seit mindestens 2005. Nach Angaben der Uno haben Angehörige der israelischen Armee etwa 153 Palästinenser*innen im Westjordanland getötet, darunter Dutzende von Kindern. Untersuchungen von Amnesty International ergaben, dass im August 2022 während der Offensive gegen den Gazastreifen 33 Palästinenser*innen, darunter 17 Zivilist*innen, von israelischen Streitkräften getötet wurden, während mindestens sieben israelische Zivilist*innen durch von bewaffneten palästinensischen Gruppen abgefeuerte Raketen ums Leben kamen.
Auch die Gewalt israelischer Siedler*innen gegen Palästinenser*innen hat im Jahr 2022 zum sechsten Mal in Folge zugenommen – neben tätlichen Angriffen auf Personen sind umfangreiche Sachbeschädigungen und die Zerstörung von Olivenhainen dokumentiert. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die israelischen Behörden diese Gewalt dulden und erleichtern, indem sie die angegriffenen Palästinenser*innen verhaften, den Siedler*innen bewaffneten Begleitschutz gewähren oder einfach nur zusehen, wie Palästinenser*innen geschlagen und ihr Eigentum zerstört wird. Diese Kultur der Straflosigkeit hat weitere Gewalt begünstigt, wie die Häufung von Angriffen durch Siedler*innen in den letzten Tagen zeigt.
Nach der Schussattacke in Neve Ya'akov haben die israelischen Behörden offenkundig zu weiterer Gewalt gegen Palästinenser*innen angestachelt, indem sie ankündigten, die Ausstellung von Waffenscheinen zu beschleunigen, «um Tausenden weiteren Bürger*innen das Tragen von Waffen zu ermöglichen». Premierminister Benjamin Netanjahu, der bereits zugesagt hat, die illegalen Siedlungen in den palästinensischen Gebieten massiv auszubauen, erklärte ausserdem, die Regierung plane eine «Verstärkung der Siedlungen».
Alle israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten sind nach internationalem Recht illegal, und Israels langjährige Politik der Ansiedlung von Zivilpersonen in den besetzten Gebieten stellt ein Kriegsverbrechen dar.
Der weitere Ausbau der Siedlungen wird unzählige weitere Palästinenser*innen der Gefahr der Zwangsvertreibung aussetzen. Zwangsvertreibungen sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das die israelischen Behörden systematisch begangen haben. Ein aktuelles Beispiel ist das Urteil des Obersten Gerichtshofs vom Mai 2022, mit dem die Zwangsvertreibung von mehr als 1150 Palästinenser*innen aus Masafer Yatta im Westjordanland genehmigt wurde.
Im vergangenen Jahr haben die israelischen Behörden ausserdem ihre Pläne zur Zerstörung des nicht anerkannten Dorfes Ras Jrabah in der israelischen Negev/Naqab-Region und zur Vertreibung seiner 500 palästinensisch-beduinischen Bewohner*innen ausgeweitet. Das Beduinendorf Al-Araqib wurde im Januar 2023 zum 212. Mal zerstört. Der Apartheid-Bericht von Amnesty International zeigt auf, wie Zwangsräumungen im Negev/Naqab und in den gesamten OPT zur Verfolgung der demografischen Ziele Israels durchgeführt werden.
Anerkennung des Apartheid-Vorwurfs
Angesichts dieser Vergehen wird international zunehmend anerkannt, dass die israelischen Behörden Apartheid begehen. Die Palästinenser*innen fordern seit langem, die systematische Unterdrückung und Segregation als Apartheid anzuerkennen. Palästinensische Organisationen wie Al-Haq, das palästinensische Zentrum für Menschenrechte, und die Organisation Al Mezan haben sich bei den Vereinten Nationen intensiv dafür eingesetzt.
Im vergangenen Jahr sind zwei Uno-Sonderberichterstatter zu dem Schluss gekommen, dass israelische Behörden das Verbrechen der Apartheid gegenüber Palästinenser*innen begehen. Im Uno-Menschenrechtsrat hat sich die Zahl der Länder verdoppelt, die sich auf den völkerrechtlichen Tatbestand der Apartheid berufen (von 9 in 2021 auf 18 in 2022).
Insbesondere Südafrika und Namibia gehören zu den Staaten, die ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht haben, dass Israels Behandlung der Palästinenser*innen dem Verbrechen der Apartheid gleichkommt. Mehrere internationale und israelische Menschenrechtsorganisationen haben ein Ende der Apartheid gefordert, darunter Human Rights Watch, B'Tselem und Yesh Din.
Die israelischen Behörden haben grosse Anstrengungen unternommen, um Apartheidvorwürfe zu unterdrücken und zu diskreditieren. Besonders schwerwiegend sind die Folgen für palästinensische Menschenrechtsaktivist*innen: Im August vergangenen Jahres führten die israelischen Behörden Razzien in den Büros von sieben führenden palästinensischen NGOs durch, nachdem sie diese als «terroristische Organisationen» bezeichnet und verboten hatten. Im Dezember wurde Salah Hammouri, Anwalt bei der Gefangenenrechtsorganisation Addameer, nach neunmonatiger Administrativhaft die Aufenthaltsgenehmigung in Jerusalem entzogen und nach Frankreich abgeschoben.
Missachtung des Völkerrechts
Im Mai 2023 wird Israels Menschenrechtsbilanz im Rahmen der Allgemeinen Regelmässigen Überprüfung (Universal Periodic Review, UPR) durch den Uno-Menschenrechtsrat auf den Prüfstand gestellt. Amnesty International hat die israelischen Behörden schriftlich aufgefordert, sich an der Überprüfung zu beteiligen, was Israel bislang unterlassen hat. Die israelischen Behörden haben die meisten der Empfehlungen ignoriert, die von den überprüfenden Staaten vorgelegt und vom Menschenrechtsrat während des letzten UPR-Zyklus im Jahr 2018 ausgesprochen worden waren. Zu den Empfehlungen gehörten die Beendigung der Diskriminierung von Palästinenser*innen, die Aufhebung von Bewegungsbeschränkungen, die Beendigung der Praxis der Verwaltungshaft und die Gewährleistung der Rechenschaftspflicht für rechtswidrige Gewaltanwendung.
«Die langjährige Missachtung der völkerrechtlichen Verpflichtungen und der Empfehlungen der internationalen Gemeinschaft durch die israelischen Behörden hat anhaltende, schwerwiegende Folgen für die Palästinenser*innen und untergräbt auch den Schutz der Rechte der israelischen Bevölkerung», sagte Agnès Callamard.
«Kein Staat sollte sich ungestraft systematisch über internationales Recht hinwegsetzen können, darunter verbindliche Resolutionen des Uno-Sicherheitsrats. Wir fordern alle Staaten auf, jegliche Form der Unterstützung der Menschenrechtsverstösse Israels zu beenden und mit der jahrelangen komplizenhafte Untätigkeit zu brechen. Die Staatengemeinschaft muss die israelischen Behörden endlich zur Verantwortung ziehen.»