Die Überreste der Omari-Moschee in Gaza-Stadt, Januar 2024. © Omar El Qattaa/Amnesty International
Die Überreste der Omari-Moschee in Gaza-Stadt, Januar 2024. © Omar El Qattaa/Amnesty International

Israel / Besetzte palästinensische Gebiete Antrag des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

22. Mai 2024
Der Antrag des Internationalen Strafgerichtshofs auf Haftbefehle gegen Netanjahu, Sinwar und andere hochrangige Vertreter Israels und der Hamas sind ein wichtiger Schritt in Richtung Gerechtigkeit. Die Reaktion der Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard.

Die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) hat wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die spätestens ab dem 7. Oktober 2023 in Israel und im Staat Palästina, insbesondere im besetzten Gazastreifen, begangen wurden, Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu, den israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant sowie die Hamas-Führer Yahya Sinwar, Mohammed Deif und Ismail Haniyeh beantragt.

Dazu erklärt Agnès Callamard, Internationale Generalsekretärin von Amnesty International:  
«Niemand steht über dem Völkerrecht: keine Anführer*innen bewaffneter Gruppen, keine Regierungsangehörigen, seien sie gewählt oder nicht, keine Militärangehörigen. Niemand steht über dem Gesetz, ganz gleich, was die Beweggründe für ihr Handeln auch sein mögen.

Dieser Schritt des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs ist eine wichtige Botschaft an alle Konfliktparteien im Gazastreifen und darüber hinaus, dass sie für den verheerenden Schaden, den sie der Bevölkerung des Gazastreifens und Israels zugefügt haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Alle, die verdächtigt werden, in Israel und in den besetzten palästinensischen Gebieten für Völkerrechtsverbrechen verantwortlich zu sein, müssen vor Gericht gestellt und zur Rechenschaft gezogen werden, ganz gleich, wie mächtig oder hochrangig sie sind.

Angesichts der Lage im Staat Palästina bietet der Antrag auf Erlass von Haftbefehlen durch den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs auch die lang erhoffte Gelegenheit, der jahrzehntelangen Straflosigkeit in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten ein Ende zu setzen und die Glaubwürdigkeit des internationalen Rechtssystems als Ganzes wiederherzustellen.

Alle Staaten müssen die Legitimität des Gerichtshofs anerkennen, und sie müssen von Versuchen, den Gerichtshof einzuschüchtern oder unter Druck zu setzen, absehen, damit das Gericht seiner Arbeit absolut unabhängig und unparteiisch nachgehen kann.

Es ist nun an der Vorverfahrenskammer, diese ersten Anträge auf den Erlass von Haftbefehlen umgehend zu prüfen und darüber zu entscheiden, während die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen fortsetzt. Alle Staaten, auch Drittstaaten, die nicht dem IStGH angehören, müssen diese Entscheidung respektieren. Sollten die Richter*innen die Haftbefehle genehmigen, müssen alle Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs sicherstellen, dass die Haftbefehle vollstreckt werden.»

Hintergrund

Grundlage der vorliegenden Anträge auf Erlass von Haftbefehlen gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant ist der Vorwurf von Kriegsverbrechen durch das Aushungern von Zivilpersonen, durch gegen Zivilpersonen gerichtete Angriffe sowie durch vorsätzliche Tötung und das Verursachen grossen Leids sowie der Vorwurf von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie der Vernichtung, darunter durch Aushungern und Verfolgung, unter dem Römischen Statut, begangen zumindest ab dem 8. Oktober 2023 im Gazastreifen.

Gegen die führenden Hamas-Vertreter Yahya Sinwar, Mohammed Deif und Ismail Haniyeh erhebt der Chefankläger den Vorwurf von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, beginnend mit dem 7. Oktober, u. a. in Form von Vernichtung, Mord, Vergewaltigung und anderen Formen sexualisierter Gewalt, Geiselnahme sowie Folter und anderen Misshandlungen von Personen in Gefangenschaft.

Die Anträge müssen noch von der Vorverfahrenskammer des Gerichtshofs geprüft und genehmigt werden, bevor Haftbefehle erlassen werden können. Wie das Büro des Chefanklägers verlautete, wird aktuell weiter ermittelt. Dies bedeutet, dass noch weitere Anträge auf Haftbefehle für andere Personen wie für andere mutmassliche Straftaten folgen könnten.

Amnesty International fordert bereits seit langem, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichthofs unverzüglich konkrete Massnahmen ergreift, um die im März 2021 eingeleiteten Ermittlungen zu möglichen Verbrechen gemäss dem Römischen Statut des Gerichtshofs, die seit dem 13. Juni 2014 im Gazastreifen und im Westjordanland einschliesslich Ostjerusalem begangen wurden, zu beschleunigen. Am 29. Oktober sowie im November 2023 gab der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs verspätet Erklärungen ab. Darin bestätigte er, dass sich die laufenden Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs zur Situation in Palästina auch auf Handlungen erstrecken, die am und ab dem 7. Oktober von allen Seiten in Israel und den besetzten Gebieten begangen wurden.

Die israelischen Behörden haben bisher keine unverzügliche, gewissenhafte und unabhängige Untersuchung von Kriegsverbrechen und anderen Menschenrechtsverletzungen durchgeführt, die durch die israelische Armee in den besetzten palästinensischen Gebieten begangen wurden. Auch die palästinensischen Behörden haben bisher keine von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen begangenen Verbrechen und Menschenrechtsverstösse untersucht.

Von Amnesty International zusammengetragene Beweise zeigen, dass die israelischen Streitkräfte weiterhin, auch seit dem 7. Oktober 2023, durch wahllose oder gezielte Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte im besetzten Gazastreifen in eklatanter Weise gegen humanitäres Völkerrecht verstossen. Diese Verstösse müssen als Kriegsverbrechen untersucht werden. Darüber hinaus haben sich die israelischen Behörden auch nicht an die vom Internationalen Strafgerichtshof erlassenen Massnahmen zur Verhinderung von Völkermord gehalten, indem sie vorsätzlich den Zugang zu ausreichender humanitärer Hilfe verweigerten. Amnesty International hat bereits während der Konflikte 2008–20092014, und  wahllose oder gezielte Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte durch die israelische Armee dokumentiert.

Amnesty International hat auch Verstösse gegen das Völkerrecht durch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen am und nach dem 7. Oktober 2023 dokumentiert, darunter die gezielte Tötung von Zivilpersonen, Geiselnahmen und wahllose Raketenangriffe auf Israel. Amnesty International fordert die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppe auf, alle Zivilpersonen, die weiterhin als Geiseln in Gaza festgehalten werden, bedingungslos freizulassen. Geiselnahme ist ein Kriegsverbrechen. Amnesty International hat immer wieder von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen im Gazastreifen begangene Verstösse gegen das Völkerrecht dokumentiert, darunter Folter und Misshandlung, wahllose Raketenangriffe auf Israel und Raketenangriffe, die palästinensische Opfer im besetzten Gazastreifen forderten.