Mit Bulldozern und von Hand gelegten Sprengsätzen hat das israelische Militär rechtswidrig landwirtschaftliche Flächen und zivile Gebäude zerstört und ganze Stadtviertel mit Häusern, Schulen und Moscheen dem Erdboden gleichgemacht.
Durch die Analyse von Satellitenbildern und Videos, die von israelischen Streitkräften zwischen Oktober 2023 und Mai 2024 in Sozialen Medien gepostet wurden, konnte das Crisis Evidence Lab von Amnesty International entlang der östlichen Grenze des Gazastreifens einen neu geräumten Landstrich identifizieren, der zwischen 1 km und 1,8 km breit ist. In einigen Videos sind israelische Armeeangehörige zu sehen, die für Fotos posieren oder auf den Abriss von Gebäuden anstossen.
Mutwillige Zerstörung
«Die unerbittliche Verwüstung, die das israelische Militär im Gazastreifen anrichtet, ist ein Akt der mutwilligen Zerstörung. Unsere Untersuchungen zeigen, wie die israelischen Streitkräfte Wohnhäuser zerstörten, Tausende Familien aus ihren Häusern vertrieben und ihr Land unbewohnbar machten», sagte Erika Guevara-Rosas, leitende Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International.
«Unsere Recherchen decken auf, dass entlang der östlichen Grenze des Gazastreifens systematische Zerstörungen erfolgt sind. Diese Häuser wurden nicht im Zuge von Kampfhandlungen zerstört. Vielmehr machte das israelische Militär das Gebiet vorsätzlich dem Erdboden gleich, nachdem es die Kontrolle darüber bereits erlangt hatte.»
«Die Einrichtung einer ‚Pufferzone‘ darf nicht auf die kollektive Bestrafung der palästinensischen Zivilbevölkerung in diesen Gebieten hinauslaufen. Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Angriffen aus dem Gazastreifen müssen im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Israels durchgeführt werden, und das Völkerrecht verbietet mutwillige Zerstörung und Kollektivbestrafung», sagte Erika Guevara-Rosas.
Israelische Behörden haben eingeräumt, dass es nach den Angriffen vom 7. Oktober 2023 durch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen aus Sicherheitsgründen zur Zerstörung von Gebäuden entlang der Ostgrenze des Gazastreifens gekommen sei, um Menschen in Israel vor weiteren Angriffen zu schützen. Das israelische Militär rechtfertigt den Abriss von Gebäuden im Gazastreifen mit der Angabe, dadurch Tunnel und andere «terroristische Infrastruktur» zerstört zu haben.
Am 2. Juli 2024 richtete sich Amnesty International mit Fragen bezüglich der Verwüstungen an die israelischen Behörden. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des vorliegenden Amnesty-Berichts lag noch keine Antwort vor.
Militärische Notwendigkeit und das humanitäre Völkerrecht
Die erweiterte «Pufferzone» entlang der Grenze zu Israel umfasst rund 58 km², was etwa 16 % des gesamten besetzten Gazastreifens entspricht. Im Mai 2024 schienen mehr als 90 % der Bauten in diesem Gebiet (mehr als 3500 Gebäude) zerstört oder schwer beschädigt zu sein. Auf mehr als 20 km² bzw. 59 % der landwirtschaftlichen Flächen in dieser Gegend wuchsen aufgrund des anhaltenden Konflikts weniger und kränkere Nutzpflanzen.
Amnesty International hat mit betroffenen Bewohner*innen und Bäuer*innen gesprochen, Satellitenbilder ausgewertet, 25 Videos aus diesem Grenzgebiet überprüft und Angaben des israelischen Militärs, der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen untersucht, um festzustellen, ob die Zerstörung rechtmässig war, das heisst ob sie z. B. durch zwingende militärische Notwendigkeit gerechtfertigt werden konnte.
In vier von Amnesty International untersuchten Gebieten kam es zu Verwüstungen, nachdem die israelische Armee bereits die Kontrolle über die Gebiete übernommen hatte, was bedeutet, dass die Schäden nicht durch direkte Kampfhandlungen zwischen dem israelischen Militär und der Hamas oder anderen bewaffneten palästinensischen Gruppen verursacht wurden. In diesen Teilen des Gazastreifens wurden Gebäude vorsätzlich und systematisch zerstört.
Die Vermutung liegt nahe, dass viele der Bauten abgerissen wurden, weil sie sich in der Nähe des von Israel errichteten Grenzzauns befanden. Auch wenn es wahrscheinlich ist, dass manche der Gebäude in der Vergangenheit von bewaffneten Gruppen genutzt wurden, rechtfertigt eine mögliche künftige Nutzung von zivilen Objekten durch bewaffnete Gruppen nicht per se die Ausweisung von Häusern, Schulen oder Moscheen als militärische Ziele – sei es aufgrund ihrer Nähe zum Grenzzaun oder aus anderen Gründen. Darüber hinaus verbietet es das Völkerrecht, zivile Objekte zur Bestrafung der Zivilbevölkerung abzureissen, lediglich weil die Gebäude zuvor von bewaffneten Gruppen genutzt worden waren – dies stellt eine Form der Kollektivbestrafung dar.
Das humanitäre Völkerrecht, das für alle an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien verbindlich ist, verbietet die Zerstörung von Eigentum des Gegners, es sei denn, es liegt eine zwingende militärische Notwendigkeit vor. Direkte Angriffe auf zivile Objekte sind ebenfalls verboten.
Für das Verbot der Zerstörung gegnerischen Eigentums gibt es eine ausdrückliche Ausnahme: die «zwingende militärische Notwendigkeit». In diesem Fall ist die Zerstörung von Eigentum erlaubt, wenn sie einem legitimen militärischen Zweck dient und nicht gegen andere Bestimmungen des humanitären Völkerrechts verstösst, z. B. das Verhältnismässigkeitsprinzip oder das Verbot der Kollektivbestrafung.
Ein Beispiel für einen legitimen Zweck wäre die Zerstörung eines Gebäudes, das dem Feind Deckung bietet, um die gegnerischen Truppen während aktiver Kampfhandlungen zu beschiessen. Diese taktische Anwendung ist in den hier dokumentierten Fällen nicht gegeben, da die israelischen Streitkräfte die Gebiete zum Zeitpunkt der Verwüstung bereits kontrollierten und die Kampfhandlungen weitgehend eingestellt worden waren. Selbst wenn angerichtete Zerstörung einem legitimen militärischen Zweck dient, sind ihr in Vorgehensweise und Ausmass gewisse Grenzen gesetzt, u. a. durch das Verhältnismässigkeitsprinzip und andere Bestimmungen des humanitären Völkerrechts wie etwa die Regeln für militärische Besetzungen.
Die weitläufige und systematische Verwüstung bei der Erweiterung der «Pufferzone» im östlichen Gazastreifen steht in keinem Verhältnis zu einem möglichen legitimen militärischen Zweck. Amnesty International fordert deshalb, das sie als Kriegsverbrechen der mutwilligen Zerstörung untersucht wird. Zudem sollte geprüft werden, ob das Kriegsverbrechen der Kollektivbestrafung begangen wurde, indem Wohnhäuser und zivile Objekte zerstört wurden, um die Bevölkerung für Angriffe bewaffneter Gruppen zu bestrafen.