In den letzten Wochen sind Zehntausende Menschen in ganz Israel auf die Strasse gegangen und haben von den israelischen Behörden ein Waffenstillstandsabkommen und Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln gefordert. Angehörige von Geiseln marschierten erneut von Tel Aviv nach Jerusalem, um die Freilassung ihrer Angehörigen zu fordern und die israelische Regierung aufzufordern, einem Waffenstillstandsabkommen zuzustimmen, nachdem die Verhandlungen diese Woche wieder aufgenommen wurden.
Noch immer werden schätzungsweise 116 Menschen – darunter mindestens 79 Zivilist*innen – vermisst, die am 7. Oktober von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen entführt wurden. Laut den israelischen Behörden starben 43 dieser Personen in Geiselhaft. Bis zum 18. Mai gab es Lebenszeichen von 33 Geiseln. Den Geiseln wurde bisher jeglicher Zugang zu unabhängigen Beobachter*innen, einschliesslich des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), verweigert.
«Geiselnahme ist ein Kriegsverbrechen. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, den Geiseln, die seit über neun Monaten in Gefangenschaft sind, und ihren Familien solche Qualen zuzufügen.» Erika Guevara-Rosas, leitende Direktorin für Forschung, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International
«Geiselnahme ist ein Kriegsverbrechen. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, den Geiseln, die seit über neun Monaten in Gefangenschaft sind, und ihren Familien solche Qualen zuzufügen», sagte Erika Guevara-Rosas, leitende Direktorin für Forschung, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International. «Seit Oktober hat Amnesty International die Hamas und andere bewaffnete Gruppen immer wieder aufgefordert, alle zivilen Geiseln sofort und bedingungslos freizulassen. Kranke und verletzte Personen müssen dringend medizinisch versorgt werden».
Trotz der Verabschiedung einer Resolution des Uno-Sicherheitsrates am 10. Juni, in der alle Parteien zu einem sofortigen Waffenstillstand aufgerufen werden, haben die Verhandlungen über ein mögliches Abkommen zur Freilassung weiterer israelischer Geiseln und palästinensischer Gefangener bisher zu keinem positiven Ergebnis geführt. Die anhaltenden Bombardierungen und Bodenoperationen im Gazastreifen gefährden nicht nur die Zivilbevölkerung im Gazastreifen, sondern auch die israelischen Geiseln.
«Israels Angriff auf den Gazastreifen hat zum Tod von mehr als 38’000 Palästinenser*innen geführt und eine der weltweit schlimmsten humanitären Katastrophen verursacht. Die anhaltende Krise gefährdet auch das Leben der israelischen Geiseln. Ein Waffenstillstand zwischen allen Parteien ist dringend notwendig, um das massenhafte Leid zu lindern, weitere Verluste an Menschenleben zu verhindern und den Schutz aller Zivilpersonen zu gewährleisten», sagte Erika Guevara-Rosas.
Hinweise auf schwere Misshandlung von Geiseln
Die Hamas und andere bewaffnete Gruppen hielten Geiseln in Wohngebäuden in belebten zivilen Gebieten fest, wodurch gegen die Verpflichtung verstiessen, alle erdenklichen Vorkehrungen zu treffen, um die Zivilpersonen unter ihrer Kontrolle vor den Auswirkungen von Angriffen zu schützen.
Bei einem tödlichen Einsatz der israelischen Streitkräfte im Flüchtlingslager al-Nuseirat zur Befreiung von vier Geiseln am 8. Juni 2024 kamen nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums mehr als 270 Palästinenser*innen ums Leben. Bei einer früheren Rettungsaktion zur Befreiung von zwei Geiseln, die am 12. Februar 2024 in Rafah festgehalten wurden, kamen rund 100 Menschen ums Leben.
Am 3. Juni gaben die israelischen Behörden den Tod von vier israelischen Geiseln im Gazastreifen bekannt. Unter ihnen war Yoram Metzger, 80, der zusammen mit seiner Frau Tami Metzger, 78, im Kibbuz Nir Oz am 7. Oktober als Geisel genommen wurde. Tami Metzger wurde im November freigelassen. Ayala Metzger, seine Schwiegertochter, erklärte gegenüber Amnesty International, sie sei frustriert über das Versagen der israelischen Behörden: «Unsere derzeitige Regierung hat die Geiseln aufgegeben; es werden keine wirklichen Anstrengungen unternommen, damit die Geiseln freikommen. Der Krieg muss beendet werden. Die Leute sind müde. Die Leiche von Yoram ist immer noch in Gaza, wir wissen nicht genau, was mit ihm passiert ist, ausser dass er für tot erklärt wurde.»
Von Amnesty International überprüfte Videobeweise deuten darauf hin, dass einige Geiseln während ihrer Geiselhaft gefoltert und anderweitig misshandelt wurden.
Von Amnesty International überprüfte Videobeweise deuten darauf hin, dass einige Geiseln während ihrer Geiselhaft gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Hersh Goldberg-Polin wurde in der Nähe des Nova-Partygeländes als Geisel genommen. Mit Hilfe seiner Familie identifizierte Videos zeigen, wie Hamas-Kämpfer ihn auf einen Lastwagen verladen und ihn und andere in Richtung Gaza fahren, während sein linker Arm unterhalb des Ellbogens abgetrennt ist und stark blutet. Ein von der Hamas am 24. April 2024 veröffentlichtes Video zeigt Hersh, nachdem sein amputierter Arm operiert worden war.
Nach Angaben israelischer Mediziner*innen wurden mehrere der zurückgekehrten Geiseln im Gazastreifen physisch und psychisch misshandelt. Einige Geiseln berichteten, dass sie geschlagen und gezwungen wurden, Gewalttaten zu bezeugen oder daran teilzunehmen. Viele berichteten von sexualisierter Gewalt, einschliesslich erzwungener Nacktheit und sexueller Übergriffe. Auch Foltermethoden wie Isolation, völlige Dunkelheit oder erzwungener Schlaf- und Nahrungsentzug wurden nach Angaben der Betroffenen eingesetzt. Amit Soussana, die aus dem Kibbuz Kfar Azza entführt und im November 2023 freigelassen wurde, beschrieb in einer Medienaufzeichnung, dass sie drei Wochen lang im Gazastreifen angekettet war. Sie sagte, der Mann, der sie bewachte, sei in ihr Zimmer gekommen, habe sich auf ihr Bett gesetzt und sie nach Sex gefragt. Bei einer Gelegenheit habe er sie mit vorgehaltener Waffe gezwungen, einen sexuellen Akt an ihm vorzunehmen.
Bevölkerung fordert Waffenstillstand
Einige Familien von Geiseln, mit denen Amnesty International gesprochen hat, sagten, sie hätten seit fast neun Monaten keine Informationen über ihre vermissten Angehörigen erhalten. Drei Verwandte von Nathalie Smith aus der Familie Kipnis im Kibbuz Be'eri wurden am 7. Oktober 2023 getötet und sieben als Geiseln genommen. Sechs wurden im November freigelassen, aber einer von ihnen, Tal Shoham, wird immer noch gefangen gehalten. «Die Tatsache, dass die Geiseln immer noch dort sind, ist eine offene Wunde. Wir können nicht um die Toten trauern oder mit der Heilung beginnen», sagte sie.
«Das sind Menschen auf der anderen Seite, und ich betrachte sie als Opfer des Kreislaufs der Gewalt, genau wie Carmel und meine Familie...» Gil Dickman, israelischer Angehöriger von Geiseln
Gil Dickmans Tante, Kineret Gat, wurde bei dem Angriff am 7. Oktober 2023 im Kibbutz Be'eri getötet. Seine beiden Cousinen Carmel und Yarden Roman-Gat wurden als Geiseln genommen. Yarden Roman-Gat wurde im November 2023 freigelassen. Carmel Roman-Gat wird immer noch in Gaza festgehalten. Gil Dickman fürchtet um ihr körperliches und geistiges Wohlergehen und hat kein Vertrauen in die Bemühungen des Staates, die Geiseln zurückzubringen. «Ich bin noch nicht in der Lage, zu trauern. Das Dringendste im Moment ist es, für die zu kämpfen, die noch gerettet werden können – im Wissen, dass wir jeden Moment die gefürchtete Schreckensnachricht erhalten könnten», sagte er. Gil Dickman fügte hinzu, dass er sich angesichts der Zerstörung, die die Palästinenser*innen im Gazastreifen erlitten haben, sehr schlecht fühle: «Das sind Menschen auf der anderen Seite, und ich betrachte sie als Opfer des Kreislaufs der Gewalt, genau wie Carmel und meine Familie... Der Terror und die Gewalt schaden letztlich allen Menschen, die ein friedliches Leben führen wollen. Ein sofortiger und dauerhafter Waffenstillstand zwischen allen Parteien ist der einzig wirksame Weg, um der humanitären Katastrophe, dem Massensterben und der Zerstörung, die wir in den letzten neun Monaten erlebt haben, ein Ende zu setzen.»
Auch Amnesty International hat wiederholt einen Waffenstillstand gefordert. Unabhängig davon, ob eine Einigung erzielt wird oder nicht, müssen die Hamas und andere bewaffnete Gruppen sicherstellen, dass alle zivilen Geiseln unverzüglich freigelassen werden. Israel muss den ungehinderten Zugang und die Verteilung von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen lebenswichtigen Gütern nach Gaza ermöglichen.
Hintergrund:
Am 7. Oktober 2023 feuerten die Hamas und andere bewaffnete Gruppen wahllos Raketen in Richtung Israel ab, schickten Kämpfer*innen in den Süden Israels und begingen Kriegsverbrechen wie vorsätzliche Massentötungen von Zivilpersonen und Geiselnahmen. Nach Angaben der israelischen Behörden wurden dabei rund 1200 Menschen getötet. Amnesty International fordert, dass die Hamas und andere bewaffnete Gruppen für vorsätzliche Tötungen, Entführungen und wahllose Angriffe zur Rechenschaft gezogen werden.
Bewaffnete Gruppen haben 250 Menschen als Geiseln genommen, darunter rund 225 Zivilist*innen und 25 Soldaten. Bis heute wurden 131 zivile Geiseln und militärische Gefangene freigelassen (oder ihre Leichen geborgen) – 104 davon im Rahmen eines Geisel- und Gefangenenaustauschs während eines einwöchigen Waffenstillstands im November 2023.