Südafrika hat einen Antrag eingereicht, in dem es die Handlungen und Unterlassungen Israels gegenüber den Palästinenser*innen im Gazastreifen nach den Angriffen der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen am 7. Oktober 2023 als völkermörderisch bezeichnet.
«Bis zu einer endgültigen Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs wäre eine dringende Anordnung zur Umsetzung vorläufiger Massnahmen ein wichtiges Mittel, um weiteren Tod, Zerstörung und ziviles Leid zu verhindern. Zudem wäre dies eine Warnung an andere Staaten, dass sie nicht zu schweren Völkerrechtsverstössen und Verbrechen gegen die palästinensische Bevölkerung beitragen dürfen» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
Mit dem Antrag fordert Südafrika den Gerichtshof auf, «vorläufige Massnahmen» zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen anzuordnen, einschliesslich einer Aufforderung an Israel, die militärischen Angriffe, die «Verstösse gegen die Völkermordkonvention darstellen oder verursachen», unverzüglich einzustellen. Auch sollen auf Handlungen, die auf kollektive Bestrafung und Zwangsvertreibung hinauslaufen, beendet werden. Die ersten Anhörungen finden am 11. und 12. Januar vor dem IGH in Den Haag statt.
Amnesty International hat nicht festgestellt, dass die Situation in Gaza einem Völkermord gleichkommt. Es gibt jedoch alarmierende Warnzeichen angesichts des erschreckenden Ausmasses von Tod und Zerstörung mit mehr als 23'000 getöteten Palästinenser*innen in etwas mehr als drei Monaten und weiteren 10'000, die unter den Trümmern vermisst werden und vermutlich tot sind. Hinzu kommt eine Verschärfung der entmenschlichenden und rassistischen Rhetorik gegen Palästinenser*innen durch bestimmte israelische Regierungs- und Militärvertreter*innen.
Zusammen mit der völkerrechtlich illegalen Belagerung des Gazastreifens durch Israel, die den Zugang der Zivilbevölkerung zu Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung und Treibstoff abschneidet oder stark einschränkt, führt dies zu unvorstellbarem Leid und gefährdet das Überleben der Menschen im Gazastreifen.
«Ein Ende des massiven menschlichen Leids, der Verwüstung und der Zerstörung, die wir stündlich in Gaza erleben, ist nicht in Sicht. Die Gefahr, dass sich der Gazastreifen vom grössten Freiluftgefängnis der Welt in einen riesigen Friedhof verwandelt, wurde vor unseren Augen zur Wirklichkeit», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.
«Während die USA mit ihrem Vetorecht weiterhin verhindern, dass der Uno-Sicherheitsrat einen Waffenstillstand fordert, kommt es zu zahlreichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit; und die Gefahr eines Völkermordes ist real. Staaten sind verpflichtet, Völkermord und andere Gräueltaten zu verhindern und zu bestrafen. Die Untersuchung des israelischen Vorgehens durch den IGH ist ein wichtiger Schritt, um palästinensisches Leben zu schützen. Es ist notwendig, das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit in die universelle Anwendung des Völkerrechts wiederherzustellen und den Weg für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer zu ebnen».
Alle Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, Völkermord zu verhindern, und zwar nach der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 und, wie der IGH bereits festgestellt hat, nach dem Gewohnheitsrecht. Dies bedeutet, dass die Verpflichtung zur Prävention für alle Staaten bindend ist, auch für Staaten, die nicht Vertragsparteien der Konvention sind. Am 16. November 2023 warnte eine Gruppe von Uno-Expert*innen vor einem «sich anbahnenden Völkermord» in den besetzten palästinensischen Gebieten und insbesondere im Gazastreifen.
«Das Ausmass der Verwüstung und Zerstörung, das in den letzten drei Monaten im Gazastreifen angerichtet wurde, kann kaum überschätzt werden. Grosse Teile des nördlichen Gazastreifens sind zerstört und mindestens 85 Prozent der dortigen Bevölkerung sind nun Binnenflüchtlinge. Viele Palästinenser*innen und Menschenrechtsexpert*innen sehen dies als Teil einer israelischen Strategie, das Gebiet unbewohnbar zu machen. Hinzu kommen beunruhigende Äusserungen offizieller Vertreter*innen Israels, die eine illegale Deportation oder Zwangsumsiedlung der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen begrüssen, sowie eine abscheuliche und entmenschlichende Rhetorik», so Agnès Callamard.
«Bis zu einer endgültigen Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs wäre eine dringende Anordnung zur Umsetzung vorläufiger Massnahmen ein wichtiges Mittel, um weiteren Tod, Zerstörung und ziviles Leid zu verhindern. Zudem wäre dies eine Warnung an andere Staaten, dass sie nicht zu schweren Völkerrechtsverstössen und Verbrechen gegen die palästinensische Bevölkerung beitragen dürfen».
Hintergrund
Völkermord ist definiert als bestimmte Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine geschützte Gruppe wie eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten.
In den von Südafrika beantragten vorläufigen Massnahmen wird Israel aufgefordert, Handlungen zu unterlassen, die unter Artikel II der Völkermordkonvention fallen, einschliesslich der «Tötung von Mitgliedern einer geschützten Gruppe» und der «absichtlichen Zufügung von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, die physische Zerstörung der Gruppe ganz oder teilweise herbeizuführen». Die Anklageschrift fordert Israel auf, eine Zwangsumsiedlung von Palästinenser*innen zu verhindern und die Verweigerung des Zugangs zu angemessener Nahrung, Wasser, humanitärer Hilfe und medizinischer Versorgung für Palästinenser*innen zu stoppen.
Gemäss der Völkermordkonvention kann niemand, auch nicht die höchsten Regierungsvertreter*innen, persönliche Immunität für solche Handlungen beanspruchen. In dem Antrag Südafrikas an den IGH werden von Amnesty International zusammengetragene Beweise für Kriegsverbrechen und andere Verstösse gegen das Völkerrecht durch die israelischen Streitkräfte bei der intensiven Bombardierung des Gazastreifens angeführt, darunter direkte Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte, wahllose und andere ungesetzliche Angriffe, Zwangsvertreibungen von Zivilist*innen und kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung. Sie zitiert auch eine Untersuchung von Amnesty International, in der hervorgehoben wird, dass das israelische System der Beherrschung und Unterdrückung der Palästinenser*innen Apartheid gleichkommt.
Amnesty International verurteilt auch die von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen am 7. Oktober begangenen Kriegsverbrechen, darunter Geiselnahmen und die vorsätzliche Tötung von Zivilist*innen, sowie den anhaltenden wahllosen Raketenbeschuss durch palästinensische Gruppen.
Die Menschenrechtsorganisation hat wiederholt die Untersuchung von Verstössen gegen das Völkerrecht durch alle Parteien sowie einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand gefordert. Zudem fordert Amnesty International die Freilassung aller verbleibenden zivilen Geiseln, die von bewaffneten Gruppen in Gaza festgehalten werden, die Freilassung der von Israel willkürlich inhaftierten Palästinenser*innen und die Beendigung der illegalen und unmenschlichen Belagerung des Gazastreifens durch Israel