Das israelische Gesetz über «ungesetzliche Kombattanten» verleiht dem israelischen Militär weitreichende Befugnisse, um alle Personen aus dem Gazastreifen, die verdächtigt werden, an Feindseligkeiten gegen Israel beteiligt zu sein oder eine Bedrohung für die Sicherheit des Staates darzustellen, für unbegrenzt verlängerbare Zeiträume zu inhaftieren, ohne Beweise zur Untermauerung dieser Behauptungen vorlegen zu müssen. Amnesty International hat die Fälle von 27 ehemaligen palästinensischen Häftlingen dokumentiert, darunter fünf Frauen, 21 Männer und ein 14-jähriger Junge. Sie wurden unter diesem Gesetz teilweise bis zu viereinhalb Monaten ohne Zugang zu ihren Rechtsbeiständen oder Kontakt zu ihren Familien festgehalten.
Zu den Festgenommenen gehörten Ärzt*innen, die in Krankenhäusern in Gewahrsam genommen wurden, weil sie sich weigerten, ihre Patient*innen zu verlassen; Mütter, die von ihren Kleinkindern getrennt wurden, als sie versuchten, den so genannten «sicheren Korridor» vom nördlichen Gazastreifen in den Süden zu überqueren; Menschenrechtsverteidiger*innen, Uno-Mitarbeiter*innen und Journalist*innen. Amnesty International befragte auch vier Familienangehörige von Zivilist*innen, die seit bis zu sieben Monaten inhaftiert sind und deren Verbleib von den israelischen Behörden noch nicht bekannt gegeben wurde, sowie zwei Anwält*innen, denen es vor kurzem gelungen war, mit Inhaftierten zusammenzutreffen.
Das israelische Militär hat die Gefangenen an verschiedenen Orten im Gazastreifen festgenommen, darunter Gaza-Stadt, Jabalia, Beit Lahiya und Khan Younis. Die Gefangenen wurden in Schulen für Binnenvertriebene, bei Razzien in Häusern, Krankenhäusern und an neu errichteten Kontrollpunkten aufgegriffen. Anschliessend wurden sie nach Israel gebracht und für einen Zeitraum von zwei Wochen bis zu 140 Tagen in vom Militär oder dem israelischen Gefängnisdienst (Israel Prison Service IPS) betriebenen Haftanstalten festgehalten.
Zwischen Februar und Juni 2024 dokumentierte Amnesty International 31 Fälle von Isolationshaft und fand glaubwürdige Beweise für die weit verbreitete Anwendung von Folter und anderer Misshandlung. Alle von Amnesty International befragten Personen gaben an, dass sie während ihrer Isolationshaft, die in einigen Fällen einem erzwungenen Verschwindenlassen gleichkam, von israelischen Militär-, Geheimdienst- und Polizeikräften gefoltert und anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt wurden.
«Die israelischen Behörden müssen unabhängigen Beobachter*innen sofortigen und uneingeschränkten Zugang zu allen Haftanstalten gewähren – ein Zugang, der seit dem 7. Oktober verweigert wird.» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
«Folter und andere Misshandlungen, einschliesslich sexueller Gewalt, sind Kriegsverbrechen. Diese Vorwürfe müssen von der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs unabhängig untersucht werden. Die israelischen Behörden müssen unabhängigen Beobachter*innen sofortigen und uneingeschränkten Zugang zu allen Haftanstalten gewähren – ein Zugang, der seit dem 7. Oktober verweigert wird», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.
Laut IPS waren am 1. Juli 2024 1402 Palästinenser*innen nach dem Gesetz über «ungesetzliche Kombattanten» inhaftiert. Diese Zahl schliesst diejenigen aus, die zunächst für 45 Tage ohne formelle Anordnung festgehalten werden.
Amnesty International fordert, dass alle Gefangenen, die nach dem Gesetz über «ungesetzliche Kombattanten» festgehalten werden, human behandelt werden und Zugang zu Anwält*innen und internationalen Organisationen wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) erhalten. Diejenigen, die verdächtigt werden, für Verbrechen nach internationalem Recht verantwortlich zu sein, müssen im Einklang mit den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren vor Gericht gestellt werden. Alle Zivilpersonen, die willkürlich ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festgehalten werden, müssen unverzüglich freigelassen werden. Das Gesetz über «ungesetzliche Kombattanten» muss unverzüglich aufgehoben werden.
Gesetz kodifiziert Isolationshaft
Das Gesetz über «ungesetzliche Kombattanten» wurde ursprünglich 2002 erlassen, um die längere Inhaftierung von zwei libanesischen Staatsangehörigen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren zu ermöglichen, die nicht der israelischen Gerichtsbarkeit unterstanden. Seit 2005 nutzt Israel dieses Gesetz, um Personen aus dem Gazastreifen, die als Bedrohung der nationalen Sicherheit angesehen werden, auf unbestimmte Zeit zu inhaftieren. Nach den schrecklichen Angriffen der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen am 7. Oktober wurde das Gesetz zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder angewandt.
Das israelische Militär berief sich zunächst auf das Gesetz, um mutmassliche Teilnehmer*innen an den Anschlägen vom 7. Oktober festzuhalten, weitete seine Anwendung jedoch kurz darauf aus, um Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen massenhaft ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festzunehmen.
Viele Inhaftierte werden monatelang festgehalten, ohne die geringste Ahnung zu haben, warum sie inhaftiert wurden.
In den ersten 45 Tagen der Inhaftierung sind die Militärs nicht verpflichtet, einen Haftbefehl auszustellen. Das Gesetz verwehrt den Inhaftierten bis zu 90 Tage lang den Zugang zu einem rechtlichen Beistand und kodifiziert damit die Isolationshaft, die wiederum Folter und andere Misshandlungen ermöglicht. Beweise, die die Inhaftierung rechtfertigen, werden den Inhaftierten und ihren Anwält*innen vorenthalten. Viele Inhaftierte werden demnach monatelang festgehalten, ohne die geringste Ahnung zu haben, warum sie unter Verletzung des Völkerrechts inhaftiert wurden, und keine Möglichkeit haben, die Gründe für ihre Inhaftierung anzufechten.
Die Inhaftierten müssen innerhalb von höchstens 75 Tagen nach ihrer Inhaftierung einem Gericht zur gerichtlichen Überprüfung vorgeführt werden. In der Regel wird die Haftanordnung aber in Scheinverfahren bestätigt. Das Gesetz sieht keine Höchstdauer für die Inhaftierung vor und erlaubt es den Sicherheitsdiensten, Häftlinge mit unbegrenzt verlängerbaren Anordnungen festzuhalten.
Zwei Inhaftierte berichteten Amnesty International, dass sie zweimal zu virtuellen Anhörungen vor einen Richter gebracht wurden und beide Male nicht sprechen oder Fragen stellen konnten. Stattdessen wurde ihnen lediglich mitgeteilt, dass ihre Haft um weitere 45 Tage verlängert worden war. Sie wurden weder über die Rechtsgrundlage ihrer Verhaftung noch darüber informiert, welche Beweise gegen sie vorgelegt wurden, um ihre Verhaftung zu rechtfertigen.
Berichte von Folter und anderen Misshandlungen
Die langen Zeiten der Isolationshaft erleichtern die Folter, da der körperliche Zustand der Gefangenen nicht überwacht werden kann und keine Kommunikation mit ihnen möglich ist. Alle von Amnesty International befragten ehemaligen Häftlinge gaben an, bei mindestens einer Gelegenheit während ihrer Festnahme gefoltert worden zu sein. Amnesty International hat bei mindestens acht persönlich befragten Gefangenen Folterspuren und blaue Flecken festgestellt, und die medizinischen Berichte von zwei Gefangenen geprüft, die ihre Schilderungen von Folter bestätigen.
Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International hat mindestens fünf Videos von Massenverhaftungen verifiziert und geografisch verortet, darunter auch Videos von Gefangenen, die bis auf die Unterwäsche entkleidet gefilmt wurden, nachdem sie im nördlichen Gazastreifen und in Khan Younis festgenommen worden waren. Die erzwungene Nacktheit in der Öffentlichkeit über einen längeren Zeitraum hinweg verstösst gegen das Verbot von Folter und anderen Misshandlungen und stellt sexualisierte Gewalt dar.
Diejenigen, die im berüchtigten Militärgefangenenlager Sde Teiman in der Nähe von Beersheba im Süden Israels festgehalten wurden, gaben an, dass ihnen während der gesamten Zeit ihrer Haft die Augen verbunden und Handschellen angelegt waren. Sie beschrieben, dass sie nicht miteinander sprechen oder ihren Kopf heben durften. Ein Gefangener, der im Juni nach 27 Tagen, in denen er mit mindestens 120 anderen Gefangenen in einer Baracke festgehalten wurde, freigelassen wurde, berichtete Amnesty, dass Gefangene vom Militär geschlagen oder von Hunden angegriffen werden, nur weil sie mit einem anderen Gefangenen sprechen, den Kopf heben oder ihre Position verändern.
Am 1. Januar 2024 verhaftete die israelische Armme ein 14-jähriges Kind [...] Während seiner Inhaftierung durfte er weder seine Familie anrufen noch einen Anwalt aufsuchen und wurde mit verbundenen Augen und in Handschellen festgehalten.
Am 1. Januar 2024 verhaftete die israelische Armme ein 14-jähriges Kind aus seinem Haus in Jabalia im nördlichen Gazastreifen. Der Junge wurde 24 Tage lang im Militärgefängnis Sde Teiman mit mindestens 100 erwachsenen Häftlingen in einer Baracke festgehalten. Er berichtete Amnesty International, dass er von militärischen Vernehmungsbeamten gefoltert wurde, unter anderem durch Tritte und Schläge in den Nacken und auf den Kopf. Er sagte, er sei wiederholt mit Zigarettenstummeln verbrannt worden. Als Amnesty International ihn am 3. Februar 2024 in der Schule befragte, in der er mit anderen vertriebenen Familien untergebracht war, waren an seinem Körper Anzeichen von Zigarettenverbrennungen und blaue Flecken zu sehen. Während seiner Inhaftierung durfte er weder seine Familie anrufen noch einen Anwalt aufsuchen und wurde mit verbundenen Augen und in Handschellen festgehalten.
Nachdem israelische Menschenrechtsorganisationen die Schliessung des Militärlagers Sde Teiman gefordert hatte, kündigten die israelischen Behörden am 5. Juni Pläne an, die Haftbedingungen zu verbessern und die Zahl der dort Inhaftierten zu begrenzen. Dem Anwalt Khaled Mahajna gelang es am 19. Juni, Zutritt zu Sde Teiman zu erhalten. Er berichtete Amnesty International, dass sein Mandant, Mohammed Arab, ein inhaftierter Journalist, ihm sagte, dass er mit mindestens 100 Personen in derselben Baracke unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten werde. Die Lage der Inhaftierten habe sich in den letzten zwei Wochen in keiner Weise verbessert, sagte Mohammed Arab.
Frauen von Kindern getrennt
Unter den von Amnesty International befragten Inhaftierten befanden sich fünf Frauen, die alle über 50 Tage lang ohne Kontakt zur Aussenwelt festgehalten worden waren. Sie wurden zunächst in einem reinen Frauengefangenenlager im Militärgefängnis Anatot in einer illegalen israelischen Siedlung in der Nähe von Jerusalem im besetzten Westjordanland festgehalten, dann im Damon-Gefängnis für Frauen im Norden Israels. Keine der fünf Frauen wurde über die rechtlichen Gründe für ihre Verhaftung informiert. Alle beschrieben, dass sie während des Transports zum Gefängnis geschlagen wurden.
Eine der Frauen, die am 6. Dezember in ihrem Haus verhaftet wurde, wurde von ihren beiden Kindern – einem vierjährigen Kind und einem neun Monate alten Baby – getrennt und zunächst zusammen mit Hunderten von Männern festgehalten.
Eine der Frauen, die am 6. Dezember in ihrem Haus verhaftet wurde, wurde von ihren beiden Kindern – einem vierjährigen Kind und einem neun Monate alten Baby – getrennt und zunächst zusammen mit Hunderten von Männern festgehalten. Sie wurde beschuldigt, Mitglied der Hamas zu sein, geschlagen, gezwungen, ihren Schleier abzunehmen und ohne ihn fotografiert zu werden. Zudem wurde sie gezwungen, der Scheinhinrichtung ihres Mannes beizuwohnen.
Eine andere entlassene Gefangene erzählte, dass sie von Gefängniswärtern bedroht wurde und einer gewaltsamen Leibesvisitation unterzogen wurde. Sie und andere von Amnesty International befragte Gefangene gaben an, dass sie in der Nähe des Grenzübergangs Kerem Shalom/Karem Abu Salem abgesetzt wurden und mehr als eine halbe Stunde laufen mussten, bis sie eine vom IKRK betriebene Anlaufstelle für freigelassene Gefangene erreichten. Alle Gefangenen gaben an, dass sie ihr gesamtes Hab und Gut, einschliesslich ihrer Telefone, ihres Schmucks und ihres Geldes, nie zurückerhalten hätten.
Hintergrund
Amnesty International äusserte in einem Bericht aus dem Jahr 2012 ernste Bedenken über Israels Anwendung des Gesetzes über «ungesetzliche Kombattanten. Wie in diesem Bericht ausführlich dargelegt, hat Israel die Verletzung seiner Verpflichtungen aus dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) damit begründet, dass sich das Land seit seiner Gründung im Ausnahmezustand befindet. Das Folterverbot sowie das Recht auf ein faires Verfahren gelten jedoch auch während eines Ausnahezustandes. Dementsprechend verstossen Isolationshaft, das Fehlen eines fairen Verfahrens sowie Folter und andere Misshandlungen auch während des Ausnahmezustands gegen das Völkerrecht.