Am 26. Mai 2024 griffen die israelischen Streitkräfte mit zwei Luftschlägen das Kuwaiti Peace Camp im Süden des Gazastreifens an mit dem Ziel, Kommandeure und Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad zu treffen. Das Kuwaiti Peace Camp war zu dem Zeitpunkt ein Behelfslager für Binnenvertriebene in Tal al-Sultan im Westen Rafahs. Mindestens 36 Menschen – darunter sechs Kinder – wurden dabei getötet. Mehr als hundert Menschen wurden verletzt. Mindestens vier der Getöteten waren bewaffnete Kämpfer. Bei den Luftangriffen, die zwei Hamas-Befehlshaber galten, die sich inmitten der Zivilbevölkerung aufhielten, wurden zwei US-amerikanische GBU-39-Lenkbomben eingesetzt.
«Diese Angriffe mögen zwar Kommandanten und Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad gegolten haben, aber wieder einmal haben vertriebene palästinensische Zivilpersonen, die Schutz und Sicherheit suchten, mit ihrem Leben bezahlt» Erika Guevara-Rosas, leitende Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International
Der Einsatz dieser Munition in einem Lager, in dem Zivilpersonen in überfüllten Notunterkünften untergebracht sind, stellt mutmasslich einen unverhältnismässigen und wahllosen Angriff dar und sollte als Kriegsverbrechen untersucht werden. Denn die tödlichen Splitter wurden über ein grosses Gebiet geschleudert und trafen so auch unbeteiligte Zivilpersonen.
Am 28. Mai, dem Tag des zweiten untersuchten Vorfalls, feuerte das israelische Militär mindestens drei Panzergranaten auf ein Vertriebenenlager im Gebiet al-Mawasi in Rafah ab, der vom israelischen Militär als «humanitäre Zone» ausgewiesen war. Bei diesem Angriff wurden 23 Zivilpersonen – darunter zwölf Kinder, sieben Frauen und vier Männer – getötet und viele weitere verletzt.
Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad befanden sich in dem Lager für Binnenvertriebene. Sie gefährdeten damit wissentlich das Leben von Zivilpersonen und verstiessen mutmasslich gegen die Verpflichtung, bewaffnete Einheiten, wenn immer möglich, nicht in dicht besiedelten Gebieten zu stationieren. Bei den Angriffen auf das Lager unterschieden die israelischen Streitkräfte jedoch nicht zwischen Zivilpersonen und militärischen Zielen und setzten wahllos ungelenkte Waffen in einem überfüllten Gebiet voller Zivilist*innen ein – auch dies sollte als Kriegsverbrechen untersucht werden.
«Diese Angriffe mögen zwar Kommandanten und Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad gegolten haben, aber wieder einmal haben vertriebene palästinensische Zivilpersonen, die Schutz und Sicherheit suchten, mit ihrem Leben bezahlt», sagte Erika Guevara-Rosas, leitende Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International.
Das israelische Militär war sich darüber im Klaren, dass der Einsatz von ungelenkten Panzergranaten und von Bomben, die tödliche Splitter über Hunderte von Metern weit schleudern, eine grosse Zahl von Zivilpersonen töten und verletzen würde. Das Militär hätte alle möglichen Vorkehrungen treffen können und müssen, um Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden oder zumindest zu minimieren.
Verpflichtungen für Konfliktparteien nach humanitärem Völkerrecht
Die Anwesenheit militärischer Ziele entbindet die israelischen Streitkräfte nicht von ihren Verpflichtungen unter dem humanitären Völkerrecht, darunter ihrer Pflicht, die Grundsätze der Unterscheidung und Verhältnismässigkeit zu respektieren, sowie ihrer Verpflichtung, alle möglichen Vorsichtsmassnahmen zu ergreifen, um Zivilist*innen zu verschonen.
Der Grundsatz der Unterscheidung, ein grundlegendes Prinzip des humanitären Völkerrechts, verlangt von den Parteien, jederzeit zwischen militärischen Zielen und Zivilist*innen oder zivilen Objekten zu unterscheiden und ihre Angriffe nur auf militärische Ziele zu richten.
Das humanitäre Völkerrecht verbietet nicht nur Angriffe auf Zivilpersonen, sondern auch wahllose Angriffe, d. h. Angriffe, die dazu geeignet sind, militärische Ziele und Zivilisten oder zivile Objekte unterschiedslos zu treffen. Der Grundsatz der Vorsicht verpflichtet die Konfliktparteien ausserdem, ständig darauf zu achten, Zivilpersonen und zivile Objekte zu verschonen, indem sie alle möglichen Vorkehrungen treffen, um zivile Schäden zu vermeiden und in jedem Fall so gering wie möglich zu halten.
Das humanitäre Völkerrecht verbietet auch unverhältnismässige Angriffe, d. h. Angriffe, bei denen mit dem Verlust von Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, der Verletzung von Zivilpersonen, der Beschädigung ziviler Objekte oder einer Kombination dieser Folgen zu rechnen ist, die im Vergleich zu dem erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil unverhältnismässig sind.
Die Parteien müssen ausserdem alle möglichen Vorsichtsmassmahmen ergreifen, um Zivilpersonen und zivile Objekte unter ihrer Kontrolle vor den Auswirkungen von Angriffen zu schützen. Für die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen, die im Gazastreifen kämpfen, bedeutet dies, dass sie – soweit dies möglich ist – keine militärischen Ziele und Kämpfer in oder in der Nähe von dicht besiedelten Gebieten stationieren.
Amnesty International befragte 14 Überlebende und Zeug*innen, untersuchte die Orte der Angriffe, besuchte ein Spital in Chan Yunis, in dem die Verwundeten behandelt wurden, fotografierte Überreste der bei den Angriffen verwendeten Munition zur Identifizierung und prüfte Satellitenbilder der Angriffsorte. Die Organisation prüfte auch einschlägige Erklärungen des israelischen Militärs zu den Anschlägen.
Am 24. Juni 2024 schickte Amnesty International Fragen zu den beiden Angriffen an die israelischen Behörden. Am 5. Juli 2024 richtete Amnesty International ausserdem Fragen an den Generalstaatsanwalt und an Mitarbeiter*innen des Justizministeriums, die der De-facto-Verwaltung der Hamas angehören, und fragte nach der Anwesenheit von Kommandeuren und Kämpfern in diesen zivilen Gebieten. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Amnesty-Berichts, lagen keine Antworten vor.