Recherchen von Amnesty International belegen Unfassbares: die Vergewaltigung von Kindern im Jemen-Konflikt. Die Organisation sprach mit vier Elternpaaren, die angaben, dass ihre Söhne in den vergangenen acht Monaten sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren. In zwei dieser Fälle vermuteten die Familien, dass es sich bei den Verantwortlichen um Angehörige von Milizen handelte, die der politischen Gruppierung al-Islah nahestehen und von der saudisch geführten Militärkoalition unterstützt werden.
«Die haarsträubenden Aussagen dieser sehr jungen Opfer und ihrer Familien machen deutlich, wie stark Kinder durch den anhaltenden Konflikt von sexueller Ausbeutung bedroht sind.»
Heba Morayef, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
«Die haarsträubenden Aussagen dieser sehr jungen Opfer und ihrer Familien machen deutlich, wie stark Kinder [in Taiz] durch den anhaltenden Konflikt von sexueller Ausbeutung bedroht sind. Sie leben in einer Stadt, die wenig Sicherheit bietet und deren Institutionen ausgehöhlt wurden. Die Betroffenen und ihre Familien waren sexuellem Missbrauch schutzlos ausgeliefert und müssen auch die Folgen dieses traumatischen Ereignisses alleine bewältigen», sagt Heba Morayef, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
«Die jemenitischen Behörden müssen diese Vorfälle sorgfältig untersuchen. Alle Verdächtigen, auch Angehörige der Streitkräfte und hoch angesehene Gemeindesprecher, müssen in fairen Verfahren vor Gericht gestellt werden. Vergewaltigung und andere sexuelle Übergriffe, die im Rahmen eines bewaffneten Konflikts begangen werden, sind als Kriegsverbrechen zu betrachten. Personen mit Befehlsgewalt, die solche abscheulichen Taten nicht stoppen oder verhindern, müssen sich unter Umständen selbst Kriegsverbrechen vorwerfen lassen.»
Mutmassliche Täter auf freiem Fuss
Amnesty International hat vier Fälle sexualisierter Gewalt dokumentiert. In drei Fällen wurden Kinder vergewaltigt, im vierten Fall handelt es sich um versuchten sexuellen Missbrauch. Zwei von Amnesty International eingesehene ärztliche Gutachten dokumentieren Spuren von Läsionen am After zweier Überlebender, was ihre Aussagen bestätigt.
Bisher werden Familien durch ein Klima der Straflosigkeit und Repressalien davon abgehalten, derartige Vorfälle anzuzeigen. Hinzu kommt, dass es sich bei einigen Verdächtigen um Personen handeln soll, die der al-Islah-Partei nahestehen, welche die lokalen Behörden kontrolliert. In zwei der Fälle handelt es sich bei den Verdächtigen um Zivilpersonen, und diese befinden sich derzeit in Untersuchungshaft. In den anderen beiden Fällen sind die Verdächtigen jedoch nicht inhaftiert worden – es handelt sich bei ihnen um Milizionäre. Amnesty International hat sich schriftlich an die Staatsanwaltschaft von Taiz gewandt und um eine Stellungnahme gebeten, jedoch bisher keine Antwort erhalten.
Familien, die derartige Vorfälle bei den Behörden anzeigen, müssen zahlreiche Hindernisse überwinden. Aus den von Amnesty International eingesehenen Dokumenten und den Angaben der betroffenen Familien geht hervor, dass alle vier Fälle direkt bei der Kriminalpolizei in Taiz angezeigt wurden. Eines der grössten Krankenhäuser in Taiz wurde daraufhin angewiesen, die drei Vergewaltigungsopfer zu untersuchen und medizinische Gutachten anzufertigen. In einem der Fälle verweigerte der Arzt jedoch die Untersuchung.
Diese Vergewaltigungen sind offenbar keine Einzelfälle. Amnesty International weiss von mindestens zwei weiteren Fällen, die die betroffenen Familien allerdings nicht öffentlich machen möchten, da sie Vergeltungsmassnahmen seitens der lokalen Milizen fürchten, welche von der saudisch geführten Militärkoalition unterstützt werden. Was die bereits angezeigten Fälle betrifft, so mussten zwei der vier betroffenen Familien aus Angst vor Repressalien umziehen.
«Ich fing an zu weinen»
In zwei der vier Fälle – einer Vergewaltigung und einem versuchten sexuellen Übergriff – handelt es sich bei den Verantwortlichen laut Angaben der Familien um Milizionäre, die al-Islah nahestehen.
Ein 16-jähriger Junge wurde eigenen Angaben zufolge Ende Dezember 2018 von einem Milizionär vergewaltigt. Dies geschah offenbar in einem Stadtteil von Taiz, der von al-Islah kontrolliert wird. Der Junge sagte Amnesty International:
«Er bedrohte mich mit seinem Gewehr... Dann fing er an, mich zu treten und mit dem Gewehrkolben zu stossen, und drückte mich gegen eine Wand, damit ich mich nicht wehren konnte... Er sagte mir, dass er mich vergewaltigen wolle. Ich fing an zu weinen... und bat ihn, sich vorzustellen, ich sei sein Sohn. Er wurde wütender und schlug noch härter zu... Er hielt mich im Nacken fest und drückte mich auf den Boden. Ich begann zu schreien und er stiess mir das Gewehr in den Nacken und vergewaltigte mich.»
Die Mutter des Jungen beschrieb den Abend, an dem ihr Sohn nach dem Vorfall nach Hause kam.
«Er kam abends nach Hause und ging direkt ins Badezimmer. Als er wieder herauskam, fragte ich ihn, was los sei, aber er konnte mir nicht sagen, was passiert war. Er fing an zu weinen, und ich begann ebenfalls zu weinen. Wir sassen drei Tage lang nebeneinander und konnten weder essen und trinken noch schlafen... Er war verängstigt und in sehr schlechter psychischer Verfassung, und seine Gesichtsfarbe war gelblich und fahl... Er starrte einfach nur ins Leere. Er konnte nicht schmerzfrei sitzen und drei Tage nicht zur Toilette gehen.»
Arzt verweigerte Untersuchung
Seine Mutter zeigte die Vergewaltigung bei der Kriminalpolizei von Taiz an. Diese wiederum ordnete eine Untersuchung durch den Gerichtsmediziner an. Amnesty International hatte Einsicht in dieses Dokument. Der Arzt, der in einem Krankenhaus arbeitet, das von al-Islah kontrolliert wird, weigerte sich jedoch, die Untersuchung durchzuführen.
Zudem verlangte das Krankenhaus für die Anfertigung des Gutachtens eine Bezahlung im Voraus, was sich die Familie allerdings nicht leisten konnte. Die Mutter des Jungen sagte, sie würde nach Erhalt des Gutachtens bezahlen, doch das Gutachten wurde nie angefertigt.
«Der Arzt sagte, mit meinem Sohn sei alles in Ordnung und er würde kein Gutachten anfertigen. Daraufhin fragte ich ihn, ob er sich denn gar nicht vor Gott fürchte.»
Versuchter Übergriff – Opfer konnte fliehen
Im Juli 2018 versuchte in Taiz ein al-Islah nahestehender Milizionär, einen zwölfjährigen Jungen sexuell zu missbrauchen, doch der Junge konnte entkommen.
Ein Verwandter sagte Amnesty International, der Junge sei von einem Milizionär dazu gebracht worden, ein Paket an einen Nachbarn auszuliefern. Der Angreifer folgte ihm und attackierte ihn.
«Er brachte ihn in sein Schlafzimmer, warf ihn aufs Bett und legte sein Gewehr auf dem Bett ab... Er bedrohte ihn und sagte, wenn er schreien sollte, würde er das geladene Gewehr benutzen... Er [der Milizionär] ging zur Schlafzimmertür, um sie zu schliessen, und begann sich auszuziehen... In diesem Moment bekam der Junge Angst und nahm das Gewehr und schoss auf den Mann, um sich zu verteidigen... Dann floh er.»
Der Angreifer starb an seinen Verletzungen. Die Familie des Jungen zeigte den Vorfall bei den Lokalbehörden an, erhielt jedoch keinerlei Schutz. Zwei Tage nach dem Vorfall wurden sie zu Hause von Angehörigen derselben Miliz angegriffen, der auch der Angreifer ihres Sohnes angehört hatte. Dabei wurden drei Personen verletzt und mussten operiert werden. Eine Person wurde getötet.
Nach diesem Angriff wurden der Junge sowie sein Vater und zwei Brüder zwei Wochen lang von den Behörden in freiwilligen Gewahrsam genommen, um sie vor weiteren Vergeltungsschlägen zu schützen.
Schutzlos ausgesetzt
In einem weiteren Fall berichtete die Mutter eines achtjährigen Jungen, ihr Sohn sei zwischen Juni und Oktober 2018 mindestens zweimal vergewaltigt worden. Ihren Angaben zufolge ereignete sich dies in einer örtlichen Moschee. Einer der Täter war der Sohn eines al-Islah nahestehenden Imams. Die Mutter erklärte, dass sich das Verhalten ihres Sohnes verändert habe und er jetzt sehr häufig weine.
«Als er [der Angreifer] fertig war, liess er einen anderen Mann herein, der sich ebenfalls an meinem Sohn verging.»
Aussage der Mutter eines achtjährigen Jungen, der vergewaltigt wurde
«Mein Sohn sagte mir, dass [der Sohn des Imams] ihn auf der Toilette der Moschee eingeschlossen habe, ihm den Mund zugehalten und ihm damit die Luft abgeschnürt habe, und angefangen habe, ihn auszuziehen... Als er fertig war, liess er einen anderen Mann herein, der sich ebenfalls an meinem Sohn verging.»
Aus von Amnesty International eingesehenen medizinischen Gutachten geht hervor, dass der achtjährige Junge seither unter eingeschränkter Mobilität leidet, sich nicht gut konzentrieren kann und eine Gehirnerschütterung davongetragen hat.
Die Mutter des Jungen sagte Amnesty International, dass er vorher sehr gut in der Schule gewesen sei, nach dem Vorfall jedoch nicht mehr in der Lage war, einen Stift zu halten und zu schreiben. Ihren Angaben zufolge leidet er unter Schlafstörungen und hat unkontrollierbare Wein- und Schreiattacken.
Amnesty International sprach mit dem Vater eines 13-jährigen Jungen, der sagte, dass sein Sohn in der Moschee von denselben Männern vergewaltigt worden sei.
Behörden müssen handeln
«Diese schrecklichen Missbrauchsvorfälle zeigen, wie gefährdet Kinder in bewaffneten Konflikten sind, wenn Institutionen und Schutzmechanismen wegfallen, was Misshandlung und Ausbeutung Tür und Tor öffnet. Dies wird im Jemen durch das Fehlen eines Rechtsstaats noch verschärft. Je länger die Angreifer nicht zur Rechenschaft gezogen werden, desto grösser die Gefahr, dass noch weitere Kinder misshandelt werden», so Heba Morayef.
«Die jemenitischen Behörden müssen gemeinsam mit den im Land tätigen humanitären Organisationen Hilfe, medizinische Versorgung und psychosoziale Unterstützung für die Betroffenen und ihre Familien bereitstellen.»
Wie für solche Konfliktsituationen typisch, wird sexualisierte Gewalt im Jemen nur sehr selten angezeigt, da die Beweislage schwierig und das Thema sehr tabubehaftet ist. Für den Konflikt im Jemen liegen keine öffentlich zugänglichen aktuellen Zahlen zu sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige vor. Laut Angaben des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen sind im Jemen 60‘000 Frauen von sexualisierter Gewalt bedroht. Sexualisierte Gewalt gegen Jungen und Männer ist in bewaffneten Konflikten ebenfalls verbreitet, wird jedoch laut den Vereinten Nationen nur selten zur Anzeige gebracht.
Straflosigkeit beenden
In den vergangenen Monaten wurden im Süden des Jemen die seit Jahren dysfunktionale Justiz und ihre Institutionen wiederbelebt, und das Justizsystem bearbeitet dort eine Handvoll Fälle.
Laut Angaben der Angehörigen des zwölfjährigen Jungen sind die Milizionäre, die den Angriff auf die Familie verübten, nicht festgenommen worden. Die Familie musste aus Furcht vor Vergeltungsmassnahmen aus Taiz wegziehen und das Familienunternehmen schliessen. Auch für die Vergewaltigung des 16-Jährigen ist bisher niemand zur Rechenschaft gezogen worden und der mutmassliche Täter – ein Milizionär – ist nach wie vor auf freiem Fuss. In den beiden anderen Fällen handelt es sich bei den Verdächtigen um Zivilpersonen, und diese befinden sich derzeit in Untersuchungshaft.
«Alle diese Fälle müssen unverzüglich sorgfältig, unabhängig und unparteiisch untersucht werden. Alle Verdächtigen, gegen die ausreichende und zulässige Beweise vorliegen, müssen in fairen Verfahren ohne Rückgriff auf die Todesstrafe oder andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Formen der Bestrafung vor Gericht gestellt werden», so Heba Morayef.
Im Jemen darf sexualisierte Gewalt per Gesetz mit der Todesstrafe geahndet werden. Amnesty International wendet sich in allen Fällen, weltweit und ausnahmslos gegen die Todesstrafe.
Jemen hat im Jahr 1991 das Übereinkommen über die Rechte des Kindes ratifiziert. Vertragsstaaten dieses Abkommens sind dazu verpflichtet, angemessene Massnahmen zu ergreifen, um Minderjährige vor allen Formen körperlicher und seelischer Gewalt zu schützen, so auch vor sexualisierter Gewalt.
Hintergrund
Seit 2015 kommt es in Taiz immer wieder zu heftigen Zusammenstössen zwischen Huthi-Truppen und gegnerischen Truppen, von denen einige der Militärkoalition und andere der jemenitischen Regierung nahestehen. Im Laufe des Jahres 2018 nahmen die Kämpfe an Intensität zu.
In den vergangenen vier Konfliktjahren haben sich zahlreiche Milizen herausgebildet, die sich entweder auf der Seite der Militärkoalition oder auf der Seite der jemenitischen Regierung befinden. Die stärksten Milizen stehen al-Islah- oder salafistischen Gruppen nahe, die von Saudi-Arabien unterstützt werden. Obwohl diese Milizen augenscheinlich auf derselben Seite des Konflikts stehen, verfolgen sie unterschiedliche Ziele. Interne Machtkämpfe sind häufig.
Die Amnesty-Recherche When arms go astray: Yemen’s deadly new threat of arms diversion to militias dokumentiert das Risiko rechtswidriger Waffenlieferungen durch Mitglieder der Militärkoalition an Milizen, die – ähnlich wie die Gruppen in Taiz – keiner Regierung unterstehen und denen Kriegsverbrechen und andere schwere Menschenrechtsverstösse vorgeworfen werden. Amnesty International fordert daher alle Staaten auf, ihre Waffenlieferungen an alle im Jemen-Konflikt beteiligten Parteien umgehend einzustellen.
Seit 2015 dokumentieren Amnesty International und andere Organisationen die Folgen des anhaltenden bewaffneten Konflikts in Taiz. Kampfhandlungen wie der willkürliche Beschuss durch Huthi-Truppen und andere Milizen haben dort zu Hunderten Todesopfern geführt. Nach beinahe vier Jahren der Belagerung durch Huthi-Truppen kann die Situation in Taiz als humanitäre Katastrophe beschrieben werden. Amnesty International hat in der Vergangenheit aufgezeigt, wie die Huthi die Bewegungsfreiheit von Zivilpersonen sowie Lieferungen ziviler Güter und lebensnotwendiger Medikamente willkürlich einschränkten.
Zudem hat Amnesty International dokumentiert, wie Truppen der Militärkoalition und der jemenitischen Regierung insbesondere gegen Ende 2016 Krankenhauspersonal einschüchterten und schikanierten und das Leben von Zivilpersonen gefährdeten, indem sie Streitkräfte und Militärposten in der Nähe von medizinischen Einrichtungen stationierten. Mindestens drei Krankenhäuser wurden infolge von Drohungen gegen das Personal geschlossen.