Symbolbild (nach Ablauf der Bildrechte vom Originalbild) © Delara Darabi
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Jordanien Willkürliche Haft für Frauen muss beendet werden

Medienmitteilung 23. Oktober 2019, London/Bern – Medienkontakt
Wegen sexuellen Beziehungen vor der Ehe werden in Jordanien Frauen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftiert. Auch Frauen, die sich der männlichen Vormundschaft entziehen, droht monatelange Administrativhaft. Unverheirateten Müttern können ihre Babys weggenommen werden. Amnesty International fordert die jordanischen Behörden auf, dieser grausamen und diskriminierenden Praxis endlich ein Ende zu setzen.

Der Bericht «Imprisoned women, stolen children: policing sex, marriage and pregnancy in Jordan» dokumentiert, welche Gefahr Frauen laufen, denen ihre männlichen Familienmitglieder vorwerfen, sich der Vormundschaft zu entziehen oder eine sexuelle Beziehung zu haben, ohne verheiratet zu sein. Diesen Frauen droht Haft oder sie werden demütigenden Jungfräulichkeitstests unterzogen. Unverheiratete Frauen, die schwanger werden, können dazu gezwungen werden, ihr Kind unmittelbar nach der Geburt wegzugeben.

Unverheiratete Mütter und Frauen, die sich der männlichen Vormundschaft entziehen, können verhaftet werden.

«Die jordanische Regierung muss diese furchtbaren Menschenrechtsverstösse, die jordanische Frauenorganisationen seit Jahrzehnten anprangern, endlich beenden. Allen voran muss die übereifrige Nutzung von Festnahmebefugnissen durch die Provinzgouverneure aufhören. Das diskriminierende Vormundschaftsrecht, das vorsieht, Frauen zu inhaftieren, wenn sie sich der Vormundschaft durch ein männliches Familienmitglied entziehen, muss abgeschafft werden», sagt Heba Morayef, die Regionaldirektorin für den Nahen und Mittleren Osten sowie Nordafrika.

«In den vergangenen Jahren hat die Regierung zwar einige wichtige Reformen angestossen, um gegen geschlechtsspezifische Gewalt vorzugehen. Unter anderem wurde das Frauenhaus ‚Dar Amneh‘ eingerichtet. Aber jetzt muss endlich Schluss damit sein, dass Frauen inhaftiert und misshandelt werden, nur weil sie ihrem männlichen Vormund nicht gehorchen oder Geschlechternormen nicht einhalten.»

Amnesty International hat zur Erstellung dieses Berichts zwischen Juni 2018 und Oktober 2019 insgesamt 121 Personen interviewt. Ausserdem hat Amnesty im Februar 2019 mit zehn RegierungsbeamtInnen gesprochen und die Rechercheergebnisse dem Premierminister vorgelegt.

Im Gefängnis, weil sie sich gegen die männliche Vormundschaft auflehnen

Um Frauen in Administrativhaft zu stecken, missbrauchen die Provinzgouverneure in Jordanien ein drakonisches Gesetz (Crime Prevention Law). Das Büro des Premierministers bestätigte auf Anfrage von Amnesty International, dass sich zu jenem Zeitpunkt 149 Frauen in Verwaltungshaft befanden. 1259 Frauen wurden in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 aus der Verwaltungshaft entlassen. Die Frauen werden aus verschiedenen Gründen inhaftiert: Beispielsweise, weil sie sich der Vormundschaft durch ein männliches Familienmitglied entziehen, oder weil sie von zu Hause fliehen oder ausserehelichen Sex (Zina) hatten.

Der Premierminister erläuterte Amnesty International, dass seit Anfang 2019 bislang 85 Frauen wegen «Zina» in Verwaltungshaft genommen worden seien. Es sei aber noch niemals eine Frau festgenommen worden, weil sie von zu Hause weglief – es sei denn, sie habe noch einen weiteren Verstoss begangen. Die Recherchen von Amnesty und die Unterlagen von jordanischen Rechtsbeiständen belegen jedoch, dass Gouverneure die Inhaftierung von Frauen wegen «Weglaufens» anordnen – oftmals nur, weil die Vormunde dies verlangen.

Im Februar 2019 besuchte Amnesty das Gefängnis Juweideh, die grösste Hafteinrichtung für Frauen in Jordanien, und sprach mit 22 Frauen, die dort ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren inhaftiert sind. Sie gaben an, sie seien festgenommen worden, weil sie sich der Vormundschaft durch ein männliches Familienmitglied entzogen hätten oder weil man ihnen ausserehelichen Sex vorwerfe. Die meisten Frauen sagten, sie seien bereits seit Monaten in Haft und warteten darauf, dass ein männliches Familienmitglied eine Kaution für sie hinterlegt. Noch im September 2019 hatten Quellen gegenüber Amnesty bestätigt, dass weiterhin mindestens 30 Frauen wegen «Weglaufens» oder ausserehelicher sexueller Beziehungen in Juweideh inhaftiert seien.

Frauen in Haft müssen darauf hoffen, dass ein männliches Familienmitglied Kaution hinterlegt.

Fast alle Frauen gaben an, vor Misshandlungen geflohen zu sein. Oder sie seien weggelaufen, weil ihr Vormund ihnen die freie Wahl des Ehepartners untersagt habe. Nach jordanischem Recht müssen Frauen unter 30 die Erlaubnis ihres männlichen Vormunds (normalerweise der Vater, Bruder oder Onkel) einholen, um heiraten zu können.

Vom eigenen Vater angezeigt

Sawsan* erzählte Amnesty, dass sie seit über einem Jahr im Gefängnis sitze, nachdem ihr Vater sie bei den Behörden angezeigt habe, weil sie mit einem Mann weggelaufen sei. Tatsächlich sei sie aber vor den Misshandlungen ihres Vaters geflohen.

«Ich wurde auf der Strasse in Amman von der Polizei angehalten und nach meinem Ausweis gefragt. Weil ich ihn nicht dabeihatte, musste ich zur Polizeiwache mitgehen. Als ich dort ankam, zeigten sie einen Haftbefehl. Die beiden Polizisten dort schlugen mich ... Dann wurde ich zum stellvertretenden Gouverneur gebracht. Er sagte, ich müsse ins Gefängnis Juweideh, bis mein Vater eine Kaution für mich bezahle».

Vier Frauen erzählten Amnesty International, wie sie aufgrund einer Schwangerschaft im Gefängnis landeten. Das Krankenhauspersonal habe die Polizei gerufen habe, weil sie schwanger waren, ohne verheiratet zu sein.

Ola*, zwischen 20 und 30 Jahre alt, erklärte: «Ich war schwanger und wollte den Mann heiraten. Aber die Ehe wurde nicht genehmigt, weil ich keinen Vormund habe. Meine Eltern sind tot, und ich habe nur jüngere Schwestern, keine Brüder ... Ich ging ins Spital und brachte das Kind zur Welt. Im Spital fragten sie, ob ich verheiratet sei. Als ich verneinte, riefen sie die Polizei. So bin ich hier gelandet.»

Zwei unverheiratete schwangere Frauen erzählten unabhängig voneinander, dass sie bis zur Geburt ihrer Kinder in Administrativhaft gehalten wurden, damit die Behörden bei den Babys einen DNA-Test vornehmen konnten. So sollten die mutmasslichen Väter vom Vorwurf des ausserehelichen Geschlechtsverkehrs entlastet werden.

Positive Schritte, aber anhaltende Sorge

Angehörige des Innenministeriums berichteten Amnesty International an einem Treffen im Februar 2019, dass Gouverneure Frauen zu deren eigener Sicherheit inhaftieren würde. Denn sie seien in Gefahr, von ihren Familienangehörigen getötet zu werden, weil sie ihren Ehemann verliessen oder ausserehelichen Sex hatten. Die BeamtInnen fügten hinzu, dass durch das neu eröffnete Frauenhaus Dar Amneh diese «Schutzhaft» nicht mehr nötig sei.

Zivilgesellschaftliche Organisationen führen es denn auch überwiegend auf das Frauenhaus Dar Amneh zurück, dass die Zahlen dieser Art von «Schutzhaft» zurückgegangen sind. Bis Mitte September 2019 hatte die Einrichtung 75 Frauen beherbergt. Doch hat Dar Amneh die Praxis der Inhaftierung von Frauen wegen Verlassen ihres Ehemanns und ausserehelichem Sex nicht beendet. Viele dieser Frauen scheinen zur Bestrafung inhaftiert zu werden und um sie zu bewegen, zu ihrem männlichen Vormund zurückzukehren.

Frauen können wegen ausserehelichem Sex strafrechtlich verfolgt werden.

Frauen können wegen ausserehelichem Sex strafrechtlich verfolgt werden. Darauf stehen ein bis drei Jahre Haft. Auch Männer können strafrechtlich verfolgt werden, wenn die Ehefrau ihren Ehemann bei den Behörden anzeigt. Doch eine Frau kann auch dann strafverfolgt werden, wenn ein anderer männlicher Vormund Anzeige erstattet. Dies gibt männlichen Familienmitgliedern eine weitere Möglichkeit, Frauen zu kontrollieren und zu bestrafen.

Rana*, Mitte zwanzig, berichtete Amnesty International, dass sie wegen ausserehelichem Sex festgenommen und strafrechtlich verfolgt wurde, nachdem sie mit einem Mann weggelaufen war, den sie liebte, aber nicht heiraten durfte. Das Strafverfahren hatte ihr Vater gegen sie angestrengt. 

Demütigende ‘Jungfräulichkeitstests’

Unverheiratete Frauen, die inhaftiert wurden, weil sie sich der männlichen Vormundschaft entzogen hatten, erzählten Amnesty International, dass sie von der Polizei zu einem Jungfräulichkeitstest gefahren wurden. Mit einer vaginalen Untersuchung soll festgestellt werden, ob die betroffene Frau Geschlechtsverkehr hatte – was jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehrt. Dieses Vorgehen verstösst gegen das völkerrechtliche Verbot von Folter und anderen Formen der Misshandlung.

Unverheiratete junge Frauen müssen anhand einer vaginalen Untersuchung beweisen, dass sie noch Jungfrau sind.

Hanan*, etwa 20 Jahre alt, berichtete Amnesty International, dass sie dreimal mit ihrer Schwester vor dem Missbrauch in ihrem Elternhaus geflohen sei: «Jedes Mal, wenn wir weggelaufen waren, nahm uns die Polizei fest und brachte uns in ein Spital, und mein Vater bestand darauf, uns einem Jungfräulichkeitstest zu unterziehen. Wir stimmten jedes Mal zu, da wir wussten, dass wir unserem Vater beweisen mussten, dass wir noch ‚Jungfrauen‘ sind. Der Familienschutz [eine Polizeieinheit] stellte aber ohnehin klar, dass wir den Test vornehmen lassen müssten, wenn unser Vater dies wolle. Er hat einfach das Recht dazu.»

Einige Frauen berichteten, dass sie vom Familienschutz oder von Familienangehörigen angewiesen wurden, sich dem Jungfräulichkeitstest zu unterziehen. «Der Einsatz von Jungfräulichkeitstests durch die Polizei in Jordanien verstärkt die diskriminierende Vorstellung, dass männliche Familienmitglieder das Recht haben, die Sexualität der Frauen zu überwachen und zu kontrollieren. Solche rechtswidrigen Praktiken müssen unter allen Umständen beendet werden», sagte Heba Morayef.

Aussereheliche Kinder werden der Mutter weggenommen

Frauen, die ausserhalb einer Ehe schwanger werden, tragen das zusätzliche Risiko, dass ihr Kind in staatliche Obhut gegeben wird. Das Büro des Premierministers gab Amnesty International gegenüber an, dass ein Kind der Mutter nur dann weggenommen werde, wenn es in Gefahr sei. Doch FrauenrechtsaktivistInnen, Rechtsanwältinnen und -anwälte sagten Amnesty International das Gegenteil: Der Familienschutz übergibt Kinder von unverheirateten Frauen immer einem Pflegeheim des Ministeriums für Soziales, ohne dass der Einzelfall geprüft werde.

Fünf Frauen, die Kinder geboren hatten, ohne verheiratet zu sein, erzählten Amnesty International, dass ihnen der Säugling gegen ihren Willen von der Polizei weggenommen worden sei.

Ledigen Müttern können die Neugeborenen weggenommen werden.

Unverheiratete Frauen können bestenfalls versuchen, als Pflegeeltern mit ihren Kindern wieder zusammenkommen.

Zwei Hausangestellte mit Migrationsgeschichte sagten den ResearcherInnen, dass sie ihre Kinder zuhause zur Welt gebracht hätten, um zu verhindern, dass sie ihnen weggenommen werden. Eine NGO berichtete Amnesty International, dass sie von zwanzig solcher Fälle wisse. Unverheiratete Frauen haben es schwer, eine Geburtsurkunde und die Rechtspersönlichkeit für ihre Kinder zu erhalten.

Eine Frau, die den Mann heiratete, der sie zuvor vergewaltigt hatte, sagte, sie habe dies angesichts mangelnder Alternativen und auf Anraten einer NGO getan, um ihre Kinder registrieren zu können.

Amy* sagte Amnesty International: «Ich wollte meinen Mann nicht heiraten, doch mir wurde dazu geraten. Ich habe Angst, dass er mich eines Tages totschlägt. Aber ich habe keine Wahl, ich muss bei ihm bleiben. Der Rechtsbeistand sagte, ich müsse ihn heiraten, um die Kinder eintragen lassen zu können.»

Heba Morayef kommentiert dies: «Leider haben wir mehrere Fälle von unverheirateten Frauen dokumentiert, die nach einer Vergewaltigung schwanger wurden, dann ins Gefängnis kamen. Ihnen wurde ihr Kind weggenommen oder die Registrierung des Kindes verweigert. Einer Frau gegen ihren Willen ihr Kind wegzunehmen, kommt der Folter gleich.»

Dringender Reformbedarf

Amnesty International fordert die jordanischen Behörden auf, ihre Bemühungen spürbar zu erhöhen, um in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen die Rechte von Frauen zu schützen.

«Die Eröffnung des Frauenhauses Dar Amneh ist ein positiver Schritt, der die Zahl von Frauen in der sogenannten Schutzhaft gesenkt zu haben scheint. Dies lässt einen politischen Willen erkennen, die Rechte von Frauen zu schützen. Nun müssen alle Gesetze und Massnahmen umfassend überprüft werden, um sicherzustellen, dass Frauen gestattet wird, im Hinblick auf ihre sexuellen und reproduktive Rechte frei zu entscheiden, statt kriminalisiert, bestraft und marginalisiert zu werden», sagte Heba Morayef.

 

(*Name aus Sicherheitsgründen geändert)