In einer Unterkunft für Arbeitsmigrant*innen, Katar © Amnesty International
In einer Unterkunft für Arbeitsmigrant*innen, Katar © Amnesty International

Katar Zwangsarbeit im Sicherheitssektor

Medienmitteilung 7. April 2022, London/Bern – Medienkontakt
Arbeitsmigrant*innen erleiden im privaten Sicherheitssektor Katars schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, die teilweise Zwangsarbeit entsprechen. Zu diesem Schluss kommt ein neuer Bericht von Amnesty International. Betroffene arbeiten auch für Unternehmen, die Dienstleistungen für Infrastrukturprojekte erbracht haben, die während der bevorstehenden Fussballweltmeisterschaft im November genutzt werden.

Für den Bericht «'They Think that we’re machines‘: Forced labour and other abuses of migrant workers in Qatar’s private security sector» (Sie denken, wir sind Maschinen. Zwangsarbeit und andere Missbräuche gegen Arbeitsmigrant*innen in Katar) sprach Amnesty International mit dem Sicherheitspersonal von 8 Firmen. In mindestens 6dieser Firmen stellte Amnesty dabei Elemente von Zwangsarbeit fest.

Manche mussten bis zu 84 Wochenstunden arbeiten – und das unter den Augen der katarischen Regierung.

34 Sicherheitskräfte, allesamt Wanderarbeitnehmer, berichteten Amnesty International, dass sie routinemässig 12 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche arbeiten − oft monatelang oder sogar jahrelang ohne einen einzigen freien Tag. Die meisten berichteten, dass ihre Arbeitgeber*innen sich weigerten, den wöchentlichen Ruhetag einzuhalten, der nach katarischem Recht vorgeschrieben ist, und dass Arbeitnehmer, die ihren freien Tag trotzdem nahmen, mit willkürlichen Lohnabzügen bestraft wurden. Ein Mann beschrieb sein erstes Jahr in Katar als «Überleben des Stärkeren».  Manche von ihnen mussten bis zu 84 Wochenstunden arbeiten – und das unter den Augen der katarischen Regierung. Mindestens drei der Firmen liehen Sicherheitspersonal an WM-Projekte und Veranstaltungen der FIFA aus, auch hier erlitten einige der Wachmänner Zwangsarbeit.

«Unsere Erkenntnisse zeigen erneut, dass die katarische Regierung nicht ernsthaft darum bemüht ist, ihre eigenen Gesetze umzusetzen oder diejenigen zu bestrafen, die sie brechen. Die Arbeiter*innen, die dafür sorgen, dass die Weltmeisterschaft für Fans, Spieler und Fussballverbände ein unvergessliches Erlebnis wird, sollten nicht die Leidtragenden dieses Fehlverhaltens sein», sagt Lisa Salza, Verantwortliche für Sport und Menschenrechte bei Amnesty International Schweiz. «Die katarischen Behörden müssen dringend Massnahmen ergreifen, um die Beschäftigten zu schützen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.»

«Die missbrauchten Arbeiter*innen müssen von der FIFA entschädigt werden.» Lisa Salza, Verantwortliche für Sport und Menschenrechte bei Amnesty International Schweiz

An die FIFA gerichtet fordert Lisa Salza: «Die FIFA muss ihrer Sorgfaltspflicht nachkommen und sicherzustellen, dass sie zeitnah von Menschenrechtsverletzungen im Sicherheitssektor erfährt und diese beseitigt. Die missbrauchten Arbeiter*innen müssen von der FIFA entschädigt werden. Was die FIFA bislang in dieser Hinsicht getan hat, reicht nicht aus.»

Amnesty International fordert Katar auf, die Missstände im privaten Sicherheitssektor dringend zu untersuchen, die Ergebnisse zu veröffentlichen und den Beschäftigten Wiedergutmachung zu leisten. Den Angestellten müssen angemessene Ruhezeiten und Bezahlung garantiert werden. Katar sollte ausserdem einen detaillierten Aktionsplan zur wirksamen Bekämpfung von Zwangsarbeit in diesem Sektor veröffentlichen.

Missbräuche an den Austragungsorten der Fussballweltmeisterschaft  

Amnesty International führte zwischen April 2021 und Februar 2022 ausführliche Interviews mit 34 aktuellen oder ehemaligen Sicherheitskräften, Aufsichtspersonen und Sicherheitsbeauftragten. Diese Recherche baut auf früheren Untersuchungen in den Jahren 2017 und 2018 auf, für die Amnesty 25 Wachleute eines Sicherheitsunternehmens befragt hatte.

Die 34 für den jüngsten Bericht befragten Arbeitnehmer*innen waren bei acht verschiedenen privaten Unternehmen beschäftigt, die Dienstleistungen für Regierungsministerien und Fussballstadien sowie für andere Infrastrukturprojekte erbracht haben, die für die Fussballweltmeisterschaft 2022 unerlässlich sein werden, wie Hotels, Verkehrssysteme und Sportanlagen. Mindestens drei der Unternehmen haben Sicherheitsdienstleistungen für FIFA-Turniere erbracht, darunter die FIFA-Klub-Weltmeisterschaft 2020 (die auf 2021 verschoben wurde) und den FIFA Arab Cup 2021.    

Im Jahr 2020 verpflichteten sich die FIFA und ihr Partner in Katar, das Supreme Committee for Delivery and Legacy, dazu, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten im Dienstleistungs- und Gastgewerbe zu verbessern. Die verbesserten Arbeitsnormen wurden auf die WM-Beschäftigten im Dienstleistungssektor ausgeweitet. Die Gremien haben weitere Initiativen lanciert, insbesondere für das Hotelpersonal. Wie der Bericht von Amnesty International zeigt, sind diese Versprechen im Sicherheitssektor jedoch noch nicht vollständig umgesetzt worden.  

Fünfzehn der von Amnesty International befragten Wachleute wurden routinemässig bei grosser Hitze im Freien eingesetzt, auch in den Sommermonaten, in denen die Arbeit im Freien eigentlich eingeschränkt sein sollte. Dies geschah trotz der gut dokumentierten Risiken, die Hitzestress für das Leben der Beschäftigten darstellt.    

Obwohl die katarischen Behörden klare Richtlinien für die Lebensbedingungen von Wanderarbeiter*innen herausgegeben haben, berichteten achtzehn der Sicherheitsangestellten, dass ihre Unterkünfte überfüllt und unhygienisch seien. 

Keine Pausen, keine Freitage

Die katarischen Gesetze und Vorschriften beschränken die Arbeitszeit auf maximal 60 Stunden pro Woche, alle Arbeitnehmer*innen haben Anspruch auf einen vollen, bezahlten Ruhetag pro Woche. Dies entspricht internationalem Recht und internationalen Standards – Ruhe ist ein grundlegendes Menschenrecht. Die Vorschriften wurden in Katar jedoch missachtet. Freie Tage wurden routinemässig verweigert, Arbeitstage von 12 Stunden sind die Norm. Wer einen Ruhetag ohne Genehmigung bezog, wurde mit Lohnabzügen bestraft. Dies kommt Zwangsarbeit gleich. Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) definiert Zwangsarbeit als Arbeit, die unfreiwillig oder unter Androhung von Strafen, einschliesslich finanzieller Strafen, verrichtet wird.  

Einige Wachleute berichteten, dass sie für «Vergehen» wie das nicht-ordnungsgemässe Tragen der Uniform oder bei unbewilligten Toilettenpausen finanziell schwer bestraft wurden.

Milton aus Kenia arbeitete bis 2021 für ein Sicherheitsunternehmen in einem Hotel. Er sagte, dass er an einem normalen Tag seine Unterkunft um 6.30 Uhr verliess und um 20 Uhr zurückkehrte, und dass er oft monatelang ohne einen einzigen freien Tag auskam. Abdul aus Bangladesch arbeitete von 2018 bis Mitte 2021 als Wachmann und sagte, er habe drei Jahre lang keinen einzigen freien Tag gehabt.  

Einige Wachleute berichteten, dass sie für «Vergehen» wie das nicht-ordnungsgemässe Tragen der Uniform oder bei unbewilligten Toilettenpausen finanziell schwer bestraft wurden.

Amnesty International stellte ausserdem fest, dass vier der in dem Bericht genannten Unternehmen die Überstunden immer noch nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Höhe bezahlen, und so die Wachleute um Hunderte von Riyals − manchmal bis zu acht Tageslöhne pro Monat − betrügen.   

Die Beschäftigten fühlten sich machtlos, wenn es darum ging, gegen solche Strafen Einspruch zu erheben. Arbeitsmigrant*innen in Katar ist es untersagt, Gewerkschaften zu gründen oder ihnen beizutreten, was das Machtungleichgewicht noch verschärft.

Diskriminierung nach Herkunft  

Amnesty International dokumentierte Diskriminierung aufgrund von rassistischen Zuschreibungen, nationaler Herkunft und Sprache. Die für den Bericht befragten Sicherheitsangestellten, die zumeist aus Uganda und Kenia stammen, erzählten, dass Arbeitnehmer aus Subsahara-Afrika oft unter den härtesten Bedingungen eingesetzt werden. Sie erhielten für die gleiche Arbeit weniger Lohn als andere Wachleute, insbesondere arabischsprachige Arbeiter*innen. 

Der aus Kenia stammende Asher war bis 2021 an verschiedenen Standorten in Katar stationiert. Er sagte: «Sie bezahlen uns nach Nationalität. Es kann sein, dass ein Kenianer 1300 verdient, aber der gleiche Sicherheitsmitarbeiter von den Philippinen bekommt 1500. Ein Tunesier kriegt 1700».  

«Sie sagen: 'Du bist ein Afrikaner, du kannst 12 Stunden arbeiten, weil du stark bist'».   Omar, befragter Angestellter

Omar sagte, dass seine Vorgesetzten rassistische Stereotype benutzten, um die harte und diskriminierende Behandlung zu rechtfertigen. «Sie sagen: 'Du bist ein Afrikaner, du kannst 12 Stunden arbeiten, weil du stark bist'».   

Die Berichte über rassistische Diskriminierung decken sich mit den Erkenntnissen des Uno-Sonderberichterstatters zu Rassismus, der Katar Ende 2019 besuchte. Zwar gibt es in Katar kein spezielles Gesetz, das Rassendiskriminierung verbietet, doch verstösst eine solche Behandlung gegen die katarische Verfassung und internationales Recht.

Direkte Verbindungen zur FIFA

Die FIFA und das Oberste Komitee stoppten die Verträge von zwei der drei Unternehmen, die für die Sicherheit an den WM-Standorten zuständig waren, und meldeten sie dem Arbeitsministerium, nachdem sie selbst Beweise für einige der von Amnesty International dokumentierten Probleme gefunden hatten. Die Recherchen von Amnesty International zeigen jedoch, dass sowohl die FIFA als auch das Oberste Komitee sich des Missbrauchspotenzials viel früher hätten bewusst sein müssen.   

Weder die FIFA noch das Oberste Komitee haben vor der Beauftragung der Unternehmen eine angemessene Sorgfaltsprüfung durchgeführt. Sie haben Missstände nicht rechtzeitig aufgedeckt und beseitigt, und profitierten infolgedessen von den Dienstleistungen dieser Unternehmen, während es zu Missbräuchen kam. Die beiden Gremien sind dafür verantwortlich, Arbeitnehmern, die während ihres Einsatzes an WM-Standorten und WM-Veranstaltungen Opfer von Missbräuchen wurden, Wiedergutmachung zu leisten.

«Was die FIFA bislang in dieser Hinsicht getan hat, reicht nicht aus.» Lisa Salza

«Wenige Monate vor der Weltmeisterschaft muss sich die FIFA darauf konzentrieren, mehr zu tun, um Missbräuche im privaten Sicherheitssektor zu verhindern», sagt Lisa Salza. «Darüber hinaus muss die FIFA ihren Einfluss nutzen, um Druck auf Katar auszuüben, damit es seine Reformen besser umsetzt und seine Gesetze durchsetzt. Die Zeit drängt − wenn jetzt nicht bessere Praktiken eingeführt werden, werden die Übergriffe noch lange nach der Abreise der Fans weitergehen. Die missbrauchten Arbeiter*innen müssen von der FIFA entschädigt werden. Was die FIFA bislang in dieser Hinsicht getan hat, reicht nicht aus.»

Hintergründe

Amnesty International hat die acht Unternehmen nicht namentlich genannt, da die Gefahr besteht, dass hochkarätige Kund*innen ihr Engagement kurzfristig kündigen. Dies könnte zum Verlust von Arbeitsplätzen führen und die Situation der Wanderarbeiter verschlimmern. Amnesty International hat jedoch Einzelheiten an das katarische Arbeitsministerium sowie an die FIFA und das Supreme Committee for Delivery and Legacy weitergeleitet und fordert sie dringend auf, weitere Untersuchungen anzustellen.   

In der Antwort auf die Anschuldigungen von Amnesty International räumte das Arbeitsministerium von Katar ein, dass «einzelne Fälle von Fehlverhalten sofort behandelt werden müssen». Es bestritt jedoch, dass diese Fälle auf «grundlegende Probleme mit dem robusten System, das Katar eingeführt hat», hindeuten, und erklärte, dass «die Zahl der Unternehmen, die gegen die Vorschriften verstossen, zurückgegangen ist und weiter zurückgehen wird, da die Reformen greifen und die freiwillige Einhaltung der Vorschriften durch die Arbeitgeber*innen zunimmt».  

Das Oberste Komitee erklärte, dass unabhängig von Vorschriften oder Überwachungssystemen einige Auftragnehmer*innen immer versuchen werden, «das System zu umgehen». Das Komitee bekräftigte seine Verpflichtung, gegen Verstösse vorzugehen und sie zu beheben. Die FIFA stellte Hintergrundinformationen zur Verfügung, ging aber nicht auf die Anschuldigungen von Amnesty ein.