Plakatwand in Katars Hauptstadt Kathmandu, woher viele Arbeitsmigrant*innen stammen, die in Katar nicht oder nicht ausreichend entschädigt wurden. ©  NagarLachhu
Plakatwand in Katars Hauptstadt Kathmandu, woher viele Arbeitsmigrant*innen stammen, die in Katar nicht oder nicht ausreichend entschädigt wurden. © NagarLachhu

Katar Noch immer keine Gerechtigkeit für Arbeitsmigrant*innen

Medienmitteilung 15. Juni 2023, London/Bern – Medienkontakt
Hunderte von Arbeitsmigrant*innen, die bei der Fussball-WM der Männer 2022 als Sicherheitskräfte tätig und von Menschenrechtsverletzungen betroffen waren, warten noch immer auf Entschädigung. Die Fifa und das Gastgeberland Katar waren mehrfach auf die Ausbeutung dieser Arbeitskräfte aufmerksam gemacht worden – auch von den Betroffenen selbst.

Amnesty International hatte im April 2022 einen 70-seitigen Bericht veröffentlicht, in welchem auf die systematischen und strukturellen Verletzungen von Arbeitsrechten hingewiesen wurde, die im gesamten privaten Sicherheitssektor in Katar verbreitet sind. Betroffene hatten sich über einen eigens dafür eingerichteten Beschwerdemechanismus auch direkt an die Fifa gewendet. Dennoch leiteten die Verantwortlichen keine wirkungsvollen Massnahmen ein, um der Ausbeutung ein Ende zu setzen.

«Bis heute warten zahlreiche Geschädigte auf Gerechtigkeit.» Lisa Salza, Verantwortliche für Sport und Menschenrechte bei Amnesty Schweiz

«Sowohl Katar wie auch die Fifa und die beteiligten Unternehmen waren sich der Problematik bewusst. Trotzdem haben die Verantwortlichen keine angemessenen Massnahmen ergriffen, um Arbeitnehmende vor weiterer Ausbeutung zu schützen, geschweige denn, sie für die erlittenen Menschenrechtsverletzungen vollumfänglich zu entschädigen. Bis heute warten zahlreiche Geschädigte auf Gerechtigkeit», sagt Lisa Salza, Verantwortliche für Sport und Menschenrechte bei Amnesty Schweiz.

«Sechs Monate nach dem Ende der WM haben die Fifa und Katar noch immer kein System geschaffen, das allen Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen im Kontext der Fussball-WM Zugang zu angemessener Entschädigung gibt.»

Vermittlungsgebühren höher als ein Monatslohn

Die Untersuchung ergab, dass Ordnungs- und Sicherheitskräfte, die an den Austragungsorten für die in Katar ansässige Firma Teyseer Security Services tätig waren, im Zusammenhang mit ihrer Arbeit Schaden erlitten haben und einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt waren.

Unter anderem mussten sie rechtswidrige Vermittlungsgebühren und andere damit verbundene Kosten bezahlen. Ausserdem wurden sie falsch über die Anstellungsbedingungen informiert. Nach Ablauf ihrer befristeten Verträge hatten sie nach eigenen Angaben keine andere Wahl, als in ihr Heimatland zurückzukehren, ohne dass sie Rechtsmittel einlegen oder eine Entschädigung erhalten konnten.

Amnesty International sprach im Rahmen ihrer Recherchen mit 22 Männern aus Nepal, Kenia und Ghana, die zu den Tausenden von Arbeitsmigrant*innen gehörten, die über Kurzzeitverträge bei Teyseer beschäftigt waren. Amnesty International hat Arbeitsverträge, Korrespondenz zu Stellenangeboten und audiovisuelles Material geprüft, darunter auch Aufzeichnungen von Gesprächen zwischen Arbeiternehmenden und Vermittler*innen. Auch Informationen von anderen Arbeiter*innen, die zuvor von der Menschenrechtsorganisation Equidem befragt worden waren, wurden geprüft. Diese untermauern die Behauptungen, dass viele andere Arbeitsmigrant*innen ähnliche Missstände erlebt haben.                                                                  

Die befragten Personen hatten im Vorfeld und während des Turniers als Ordnungs- und Sicherheitskräfte gearbeitet. Die Männer waren Mitte Oktober 2022 in Katar eingetroffen und hatten einen Arbeitsvertrag für drei Monate. Nach eigenen Angaben hatten sie alle für diese Verträge Vermittlungsgebühren gezahlt, was rechtswidrig ist. Bei einigen beinhalteten diese Kosten mehr als einen Monatslohn, sprich bis zu 300 US-Dollar, in einigen Fällen sogar das Doppelte, an Gebühren für die Personalvermittlung sowie für die medizinischen Untersuchungen vor der Abreise, für Corona-Tests und für die Überprüfung des Strafregisters. Vereinzelt mussten Arbeiter*innen auch an einem zweiwöchigen Schulungsprogramm in ihrem Heimatland teilnehmen, für das sie nicht bezahlt wurden.

Einige Personalvermittler*innen hatten versprochen, Teyseer würde ihnen die entstandenen Kosten erstatten; auch in der von Amnesty International eingesehenen Korrespondenz zu Stellenangeboten hiess es, dass das Unternehmen alle mit der Einstellung verbundenen Kosten übernehmen würde. Die überwiegende Mehrheit der Befragten gibt jedoch an, dass ihnen die Kosten nie erstattet wurden.

Alle befragten Arbeiter*innen gaben an, dass ihnen  falsche Versprechungen gemacht wurden.

Alle befragten Arbeiter*innen gaben an, dass die Vertreter*innen von Teyseer oder für das Unternehmen tätige Personalvermittlungen falsche Versprechungen gemacht hatten. Arbeiten mit einem höheren Verdienst wurden ebenso in Aussicht gestellt wie weitere Zuschläge. Manchen wurde auch versprochen, über die dreimonatige Vertragslaufzeit hinaus in Katar bleiben und weiterarbeiten zu können. Nichts davon sollte sich jedoch als wahr erweisen.

Mehr als ein Drittel der befragten Männer gaben an, an bis zu 38 aufeinander folgenden Tagen bis zu 12 Stunden täglich gearbeitet zu haben. Für diese Extraarbeit habe es keine angemessene Bezahlung gegeben. Dies ist ein Verstoss gegen katarisches Recht.

Häufig mussten die Arbeiter*innen viele Stunden im Stehen verbringen, ohne die Möglichkeit sich hinsetzen zu können. Nach den Spielen galt es für die Sicherheit grosser Menschenmengen zu sorgen, wobei die dafür eingesetzten Sicherheitskräfte keine angemessene Schulung und Unterstützung erhielten.

Ausbleiben von Entschädigungszahlungen

Viele Arbeiter*innen wehrten sich gegen diese Behandlung. Einige von ihnen meldeten die Verstösse bei der – von der Fifa initiierten – WM-Beschwerdestelle, ohne dass etwas unternommen wurde. Ein Arbeiter berichtete, ein Manager habe ihm und anderen angesichts der Beschwerde mit Vergeltung gedroht und ihn gewarnt, nie wieder ein Problem zu melden.

Einige Tage vor Ablauf ihrer Arbeitsverträge Anfang Januar forderten Hunderte bei einem Protest ihren Lohn sowie die Bezahlung von Überstunden und zugesicherten Prämien ein. Sowohl Teyseer wie auch die katarische Regierung hatten ihnen daraufhin eine Entschädigung in Aussicht gestellt. Diese wurde jedoch nie ausbezahlt.

Einigen der Befragten zufolge haben Vertreter*innen von Teyseer mit nicht näher benannten «Massnahmen» gedroht, sollten die Männer nicht mit den vom Unternehmen gebuchten Flügen das Land verlassen. In der Folge mussten Hunderte Katar ohne Entschädigung verlassen. Um Zugang zu Schlichtungsgerichten und Entschädigungen zu erhalten, müssten sich die Arbeitnehmenden jedoch im Land befinden.

Obwohl die Männer beteuerten, dass Teyseer und die Fifa über die Missstände informiert waren, hat offenbar keine der beiden Verantwortlichen wirksame Massnahmen ergriffen, um die Probleme angemessen anzugehen und rechtzeitig Abhilfe für die Arbeiter*innen zu schaffen.

Die Menschenrechtsverletzungen gegen die Sicherheitskräfte sind Teil systematischer Missstände, denen Arbeitsmigrant*innen in Katar ausgesetzt waren, seit die Fifa das Land 2010 für die Ausrichtung der Fussball-Weltmeisterschaft der Männer ausgewählt hat. Hunderttausende haben illegale Vermittlungsgebühren gezahlt; die Löhne von vielen wurden zurückbehalten, ohne dass diese je eine Entschädigung erhalten hätten. Beim Bau der Stadien und der Infrastruktur oder bei der Durchführung des Turniers sind mutmasslich viele Menschen gestorben – ihre Familien wurden nicht angemessen oder überhaupt nicht engschädigt.

Katar und die Fifa haben noch keinen angemessenen Entschädigungsmechanismus eingerichtet. Dennoch beharren sie darauf, dass das bestehende Verfahren in Katar ausreichend sei. Im März 2023 kündigte die Fifa an, dass ihr Unterausschuss für Menschenrechte eine Bewertung der menschenrechtlichen Folgen des Turniers vornehmen und dabei auch die Frage der Wiedergutmachung für Arbeitsrechtsverstösse behandeln würde. 

«Der Entschädigungsmechanismus von Katar ist nicht zugänglich für Menschen, die sich ausserhalb des Landes befinden, was dazu führt, dass Tausende von Arbeiter*innen keine Entschädigung für die erlittenen Verstösse erhalten haben», sagt Lisa Salza. «Die Fifa hat die Pflicht sicherzustellen, dass die Menschenrechte in der gesamten Lieferkette, die an der Vorbereitung und Durchführung ihres Turniers beteiligt ist, respektiert werden. Obwohl seit der WM bereits sechs Monate vergangen sind, hat die Fifa bisher weder eine zielführende Untersuchung des Problems durchgeführt noch Entschädigungen angeboten. Das ist unhaltbar.»

Reaktionen

Teyseer hat die Vorwürfe zurückgewiesen und erklärt, das Unternehmen habe ein «ethisches Einstellungsverfahren» angewandt. Das Unternehmen beschreibt ausführlich die verschiedenen Massnahmen, die es zum Schutz der Arbeitnehmer*innenrechte auf den WM-Baustellen ergriffen habe.

Die Fifa erklärte, dass sie Teyseer mit der gebotenen Sorgfalt geprüft habe, räumte jedoch ein, dass es «unterschiedliche Wahrnehmungen und Ansichten» über die Erfahrungen der Teyseer-Beschäftigten gebe. Die Fifa erklärte, sie werde sich um eine weitere Klärung der angesprochenen Fragen bemühen, verpflichtete sich aber nicht, Abhilfe zu schaffen.

Sowohl die Fifa als auch Teyseer bestätigten, dass die Probleme über die Beschwerdestelle angegangen wurden.

Die vollständigen Antworten von Teyseer und der Fifa können hier eingesehen werden.

Die Regierung von Katar verwies in ihrer Antwort auf einige der in den letzten Jahren ergriffenen Massnahmen zur Reform des katarischen Arbeitssystems. Sie ging jedoch nicht konkret auf die im Zusammenhang mit Teyseer geäusserten Bedenken ein und verpflichtete sich auch nicht, Massnahmen zu ergreifen, um die Missstände zu untersuchen und entsprechende Abhilfe zu schaffen.