Amnesty International überwachte die weitgehend friedlichen Proteste, bei denen Tränengas, Gummigeschosse und Gummischrot wahllos in die Menge gefeuert wurden. Zudem nahm die Organisation Aussagen von Opfern, Augenzeugen sowie ÄrztInnen und auf und verifizierte Videoaufnahmen, die Sicherheitskräfte beim rücksichtslosen und rechtswidrigen Einsatz von Gewalt zeigen.
«Nach der Explosion am Dienstag mussten wir sechs Operationen am offenen Auge durchführen. Nach den Protesten am Samstag waren es nochmal sechs. Die Augen der ersten sechs Patienten waren durch Glas verletzt worden. Die der zweiten sechs Patienten durch Gummischrot.» Eine Ärztin in Beirut
Das Leben der Menschen in Beirut liegt buchstäblich in Trümmern. Sie sind gezeichnet von dem physischen und emotionalen Trauma der Explosion. Trotzdem gingen Tausende von ihnen auf die Strasse, um Gerechtigkeit zu fordern. Aber anstatt Gerechtigkeit zu finden, wurden sie von staatlichen Kräften beschossen und mit Tränengas eingedeckt», erklärte Lynn Maalouf, Nahost-Expertin bei Amnesty International.
«Anstatt seiner Verantwortung gegenüber den Tausenden nachzukommen, die seit der Explosion obdachlos sind oder anderweitig geschädigt wurden, scheinen die Regierenden der Bevölkerung den Kampf angesagt zu haben.
Die libanesischen Sicherheitskräfte verletzten mehrere Menschen schwer und erodierten damit abermals das Vertrauen einer Bevölkerung, die bereits mit einer Reihe unterschiedlicher Krisen zu kämpfen hat. Gegen die Verantwortlichen dieser ungeheuerlichen Gewalttaten muss sorgfältig ermittelt werden, damit sie für ihre kriminellen Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden können.»
Die von Amnesty International überprüften Videoaufnahmen belegen, dass der Einsatz von Gewalt seitens der Sicherheitskräfte als Strafmassnahme diente und auf die vorsätzliche Verletzung der ProtestteilnehmerInnen ausgelegt war. Daraus ist abzuleiten, dass die Behörden die Protestierenden bestrafen und andere vom Protest abhalten wollten. Die Analyse der Aufnahmen bestätige überdies, dass in Zivil gekleidete Angehörige der Sicherheitskräfte auf die protestierende Menschenmenge geschossen hatten.
Augenverletzungen durch Gummigeschosse und Gummischrot
Amnesty International befragte sechs Protestierende, die sich am 8. August in der Beiruter Innenstadt aufhielten, als der Einsatz der Sicherheitskräfte eskalierte. Sie berichteten übereinstimmend, dass Militär und andere Sicherheitskräfte Gummigeschosse und Tränengaskanister auf Brusthöhe und aus nächster Nähe in die Menge abfeuerten, woraus sich ableiten lässt, dass sie die Protestierenden vorsätzlich verletzen wollten. Überdies gaben einige Demonstrierende an, durch Gummischrotkugeln verletzt worden zu sein, ohne den oder die Schützen ausmachen zu können.
Aussagen von Ärztinnen und Ärzten zufolge kam es bei mindestens sechs Personen im Alter von 18 und 21 Jahren im Augenbereich zu Verletzungen durch Gummischrot. In der Augenklinik der American University of Beirut musste einem jungen Mann ein Auge vollständig entfernt werden, während die Verletzungen bei anderen Protestierenden zu unterschiedlich starken Sehkrafteinschränkungen führten.
Eine Ärztin sagte Amnesty International gegenüber Folgendes: «Nach der Explosion am Dienstag mussten wir sechs Operationen am offenen Auge durchführen. Nach den Protesten am Samstag waren es nochmal sechs. Die Augen der ersten sechs Patienten waren durch Glas verletzt worden. Die der zweiten sechs Patienten durch Gummischrot.»
Amjad* ist einer der bei den Protesten Verletzten. Er wurde von einem Gummigeschoss am Hals getroffen. Das Projektil verletzte eine Vene, was zu einem erheblichen Blutverlust führte, bevor er ins Rizk-Krankenhaus gebracht werden konnte.
Er schilderte die Situation folgendermassen: «Wir waren in der Riad-Al-Solh-Strasse. Ich sah, wie Bereitschaftspolizei und Militär aus nächster Nähe auf die Protestierenden feuerten. Sie standen rund zwölf Meter vor uns. Dann spürte ich plötzlich Blut an meinem Hals herunterlaufen. Ich presste meine Hand auf die Wunde und ging in Richtung Rotes Kreuz, um mich verarzten zu lassen. Kurz darauf wurde ich ohnmächtig, aber die Leute dort haben sich um mich gekümmert.»
Internationalen Richtlinien zufolge dürfen Gummigeschosse nur dann als zielgerichtetes Mittel eingesetzt werden, wenn es darum geht, gewalttätige Individuen aufzuhalten. Niemals dürfen sie willkürlich in Menschenmengen abgefeuert werden, da sie schwere Verletzungen verursachen können. Zudem sollte grundsätzlich nur auf die untere Körperhälfte gezielt werden, um ernste Verletzungen nach Möglichkeit zu vermeiden.
«Die libanesischen Sicherheitskräfte setzten unterschiedliche Waffen auf eine Art und Weise ein, die ausschliesslich dazu diente, Menschen zu verletzen. Eine derartige Massnahme, gerade nach einer nationalen Tragödie wie der vom 4. August, zeugt von unfassbarer Grausamkeit», sagte Lynn Maalouf.
Tränengaskanister in die Menge gefeuert
Sicherheitskräfte und Bereitschaftspolizei feuerten willkürlich Tränengaskanister in die Menge, was zu einer Reihe ernsthafter Verletzungen führte.
Jad*, ein weiterer Protestteilnehmer, befand sich gerade im Viertel Azarieh, als ihn ein Tränengaskanister im Gesicht traf und seine Nase brach. Amnesty International berichtete er: «Wir waren gerade dabei, zusammenzupacken und zu gehen, als ich über dem rechten Auge von einem Tränengaskanister getroffen wurde. Meine Nase ist gebrochen, mein Gesicht geschwollen.»
Faten* wurde an der rechten Schulter von einem Tränengasgeschoss getroffen. Auch sie befand sich im Viertel Azarieh, als die Polizei die Menschenmenge angriff.
Amnesty International schilderte sie Folgendes: «Die Polizisten standen nur zehn Meter von uns entfernt. Ich spürte, dass mich etwas an der Schulter getroffen hatte. Danach hatte ich kein Gefühl mehr in meinem Arm. Ich dachte, ich hätte ihn für immer verloren. Dann bin ich zusammengebrochen. Die Polizei feuerte die Tränengasgeschosse in Brusthöhe direkt auf die Protestierenden.»
Mit speziellen Werfern abgefeuerte Tränengaskanister können schwere Verletzungen hervorrufen. Tränengas sollte nur zum Einsatz kommen, um eine Menschenmenge in Situationen ausufernder Gewalt zu zerstreuen, nachdem alle anderen Versuche zur Eindämmung der Gewaltakte fehlgeschlagen sind.
«Es ist gesetzeswidrig, einen Tränengaskanister direkt auf eine Person abzufeuern. Die schrecklichen Verletzungen einiger Protestteilnehmer_innen sind ohne Frage das direkte Ergebnis der Strategie der Sicherheitskräfte, die eine vorsätzliche Verletzung protestierender Menschen zum Ziel hatte», sagte Lynn Maalouf.
Auch wenn es seitens einer kleinen Anzahl Protestierender zu vereinzelten Gewalttaten kam, rechtfertigt dies nicht die Anwendung von Gewalt durch die Sicherhheitskräfte, um die gesamte Protestveranstaltung zu zerstreuen oder die Teilnehmenden allesamt als Gewalttäter_innen einzustufen und zu behandeln. Die Behörden müssen das Recht der Mehrheit der Protestierenden respektieren, ihr Recht auf friedliche Versammlung auszuüben, auch wenn es dabei zu geringfügigen Gewalttaten seitens einer Minderheit kommt.
Bislang haben sämtliche Sicherheits- und Militärbehörden in ihren Stellungnahmen jegliche Verantwortung von sich gewiesen. Ein Angehöriger der nationalen Sicherheits- und Polizeikräfte starb unter bislang ungeklärten Umständen.
Amnesty International konnte folgende Reizstoffe und Werfer bei den Sicherheitskräften identifizieren: Tränengaskanister und -granaten des Typs MP7 des Herstellers Nobel Sport; die in Frankreich produzierten Tränengasgranaten SM6 und die entsprechenden Granatwerfer des Herstellers SAE Alsetex sowie Granatwerfer des Typs M203 UGL.
Ärzte ins Visier genommen
An den Protesten teilnehmende Ärztinnen und Ärzte berichteten, dass sie nach kurzer Zeit schon dutzende Menschen ausmachen konnten, die dringend medizinische Hilfe benötigten. Sie schilderten Verletzungen und Wunden an Kopf, Gesicht, Hals, Armen, Brust, Rücken, Beinen und Milz. Noch während sie die Verletzungen behandelten, wurden auch sie mit Tränengas eingedeckt.
Doktor Elie Saliba erzählte Amnesty International, dass er am 8. August auf dem Märtyrerplatz dreimal angegriffen wurde: Erst traf ihn das Pellet-Geschoss einer Pumpgun an der Schulter, dann verletzte eine Ladung Gummischrot seinen Kopf und sein Gesicht und später wurde er von Armeeangehörigen geschlagen.
Nach dem Gummischrot-Treffer fragte er einen Armeeangehörigen, warum die Sicherheitskräfte in die Menge feuerten. Der Mann antwortete: «Ihr habt diese Regierung selbst gewählt.» Darauf antwortete Dr. Saliba: «Ich habe dieses korrupte Regime ganz bestimmt nicht gewählt.» Nach seiner Antwort kam es zu dem körperlichen Angriff.
Dr. Saliba schilderte den Vorfall folgendermassen: «Als der Armeeangehörige das Wort ‚korrupt‘ hörte, stiess er mich kräftig. Ich drehte mich um und wollte gehen. Aber ein Soldat schlug mich mit seiner Pumpgun in den Rücken, worauf ich zu Boden fiel. Dann traten drei Soldaten auf mich ein. Ich sah, wie meine Frau zu mir gelaufen kam. Ich hatte Angst, dass die Soldaten sie schlagen würden und nahm all meine Kraft zusammen, um aufzustehen, zu ihr zu gelangen und gemeinsam mit ihr den Ort des Geschehens zu verlassen. Sie schlugen mich, weil ich ‚korrupt‘ gesagt hatte. Ich hatte weder den Soldaten selbst noch die Armee oder sonst irgendjemanden beleidigt.»
«ÄrztInnen und Hilfskräfte haben eine äusserst traumatische Woche hinter sich. Nach der Explosion haben sie unermüdlich für die Rettung von Menschenleben gekämpft. Jetzt finden sie sich in einer Situation wieder, in der sie nicht nur Opfer staatlicher Gewalt versorgen müssen, sondern sogar selbst beschossen und geschlagen werden. Es scheint fast, als sei einigen der letzte Funke grundlegender Menschlichkeit abhanden gekommen», sagte Lynn Maalouf.
Forderungen nach internationaler Untersuchung
Am 4. August kam es im Hafen von Beirut zu einer verheerenden Explosion mit mindestens 220 Todesopfern und schätzungsweise 7000 Verletzten. Libanons Präsident Michel Aoun sagte, die Explosion sei durch 2750 Tonnen Ammoniumnitrat verursacht worden, die in einer kaum gesicherten Halle gelagert waren. Amnesty International fordert eine unabhängige Untersuchung des Vorfalls.
«Die libanesischen Behörden müssen in eine internationale Untersuchung der Explosion einwilligen und mit den entsprechenden Stellen kooperieren. Sie sollten jetzt alles daran setzen, die Wahrheit aufzudecken, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und die vielen Opfer zu entschädigen», sagte Lynn Maalouf.
* Namen geändert