Der Amnesty-Report Militias threaten hopes for new Libya stützt sich auf umfassende Recherchen einer Amnesty-Delegation, die im Januar und Februar 2012 in Libyen weilte. Die Delegierten führten in und um Tripolis, in Zawiya, in der westlichen Bergregion, in Misratah, Sirte und Benghazi Gespräche mit Gefängnisangestellten, Ärztinnen und Ärzten, dem Pflegepersonal in Spitälern, Anwälten, Häftlingen und Freigelassenen, mit Verwandten von Getöteten und Folteropfern sowie mit Behördenvertretern.
Der Bericht dokumentiert, dass im ganzen Land zahlreiche bewaffnete Milizen für systematische und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Kriegsverbrechen verantwortlich sind: Mutmassliche Anhänger Gaddafis werden ohne Anklage und Prozess in Haft genommen und gefoltert,– in einigen Fällen bis zum Tod. Racheakte werden verübt, von denen insbesondere auch afrikanische MigrantInnen und Flüchtlinge betroffen sind. Dabei wurden ganze Gemeinschaften gewaltsam vertrieben.
Vollständige Straflosigkeit
«Die Milizen in Libyen sind weitgehend ausser Kontrolle. Die vollständige Straflosigkeit fördert zukünftige Menschenrechtsverletzungen und schafft ein Klima von Instabilität und Unsicherheit», sagt Donatella Rovera, die Leiterin der Amnesty-Delegation. «Vor einem Jahr riskierten Libyerinnen und Libyer ihr Leben für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechte. Heute sind ihre Hoffnungen in ernster Gefahr durch bewaffnete Gruppierungen, die die Menschenrechte ungestraft verletzen. Niemand darf über dem Gesetz stehen, Menschenrechtsverletzungen müssen untersucht und geahndet werden. Nur so kann mit den Praktiken der Ära Gaddafi gebrochen werden.»
Die Amnesty-Delegierten besuchten insgesamt elf Gefängnisse, die unter Kontrolle diverser Milizen stehen. In zehn Haftanstalten berichteten Häftlinge, gefoltert und misshandelt worden zu sein und zeigten Verletzungen der erlittenen Folterungen. Mehrere Häftlinge sagten aus, falsche Geständnisse über Vergewaltigungen, Tötungen und andere Verbrechen abgelegt zu haben, um der Folter ein Ende zu setzen. Die berichteten Folterungsmethoden umfassten stundenlange Schläge, Elektroschocks und das erzwungene Verharren in schmerzhaften Positionen. In Verhörzentren in Misratah und Tripolis trafen die Amnesty-Delegierten Häftlinge an, die aufgrund der Folterungen kaum mehr sprechen konnten.
Folter bis zum Tod
Amnesty dokumentiert die Fälle von zwölf Häftlingen, die seit September 2011 in den von den Milizen kontrollierten Gefängnissen nach der Folter gestorben sind. Ihre Körper wiesen Brand-, Schlag- und Schnittspuren auf, und einigen sind die Nägel ausgerissen worden.
Amnesty ist nicht ein einziger Fall von Folter und Misshandlung bekannt, der effektiv und ernsthaft untersucht worden wäre. Die libyschen Behörden haben bisher auch nichts gegen extralegale Tötungen von Häftlingen oder die zwangsweise Vertreibung ganzer Gemeinschaften – einem Verbrechen nach internationalem Recht – unternommen. So verfügt Amnesty über Videoaufnahmen, auf denen Angehörige von Milizen zu sehen sind. Sie drohen die 29 sich in ihrem Gewahrsam befindlichen Häftlinge zu schlagen und umzubringen. Bei Misratah vertrieben Milizen die gesamte Bevölkerung Tawarghas – ca. 30‘000 Personen – und brannten die Häuser nieder, dies als Rache dafür, dass Leute aus Tawargha beschuldigt werden, während dem Krieg auf der Seite Gaddafis gestanden zu haben.
Übergangsrat muss handeln
«Nur entschiedene Massnahmen gegen die Straflosigkeit können verhindern, dass derartige Verbrechen gegen die Menschenrechte gängige Praxis werden. Der nationale Übergangsrat muss die Milizen dringend in die Schranken weisen und namentlich die Kontrolle über die Haftanstalten übernehmen.»