Der Bericht fasst die Ergebnisse der ersten eingehenden Untersuchung vor Ort seit Ausbruch der Kämpfe am 4. April 2019 zusammen. Expertinnen und Experten von Amnesty International besuchten 33 Orte in und um Tripolis, an denen Luft- und Bodenangriffe stattgefunden haben. Sie sammelten Belege für potentielle Kriegsverbrechen beider Seiten: Im Gebiet der libyschen Hauptstadt stehen sich Truppen der von der Uno anerkannten Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord – GNA) und der selbst ernannten Libysche Nationalarmee (LNA) gegenüber.
«Auf beiden Seiten der Front gibt es eine systematische Missachtung des Völkerrechts.» Donatella Rovera, Krisenexpertin bei Amnesty International
«Unsere Untersuchung vor Ort ergab auf beiden Seiten der Front eine systematische Missachtung des Völkerrechts. Diese wird durch die fortgesetzten Waffenlieferungen an beide Seiten, die das Uno-Waffenembargo verletzen, noch verstärkt», sagt Donatella Rovera, Krisenexpertin bei Amnesty International.
«Zahlreiche Zivilistinnen und Zivilisten wurden getötet oder verletzt, da beide Seiten alles einsetzen, dessen sie habhaft werden können, von ungelenkten Raketen aus der Gaddafi-Ära bis zu modernen Drohnen-Lenkwaffen. Die Angriffe könnten als Kriegsverbrechen eingestuft werden», so Brian Castner, Amnesty-Experte für Waffen und Militäreinsätze.
Erste Untersuchung auf beiden Seiten der Front
Das Ermittlungsteam von Amnesty International war von 1. bis 14. August in Libyen und besuchte Kampfschauplätze auf beiden Seiten der Front in Tripolis, Tajoura, Ain Zara, Qasr Bin Ghashir und Tarhouna. Die Expertinnen und Experten der Menschenrechtsorganisation interviewten 156 Anwohnerinnen und Anwohner, darunter Überlebende, Zeugen und Familienangehörige von Opfern, sowie örtliche Behörden, medizinisches Personal und Mitglieder der Milizen.
Ergänzend führte das Digital Verification Corps und weitere Expertinnen und Experten von Amnesty International eine Online-Open-Source-Untersuchung der Angriffe durch. Dabei wurden mittels Foto- und Videoüberprüfung digitale Nachweise für das Geschehen ermittelt, beispielsweise durch die Verifizierung eingesetzter Waffen und Munition. Keine der beiden Konfliktparteien haben auf die Fragen von Amnesty International zu ihren Angriffen reagiert.
Zivilbevölkerung im Kreuzfeuer
Seit Beginn der Offensive vor sechs Monaten wurden laut Uno mehr als 100 Zivilistinnen und Zivilisten getötet oder verletzt – darunter auch Dutzende inhaftierter Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten. 100‘000 Menschen wurden vertrieben. Luftangriffe, Artilleriefeuer und Granateneinschläge haben zivile Wohngebäude und Infrastruktur beschädigt oder zerstört. Dazu zählen mehrere Feldlazarette, eine Schule und ein Internierungslager für MigrantInnen.
Einige der Angriffe waren entweder wahllos oder unverhältnismässig – ein Verstoss gegen fundamentale Prinzipen ein mögliches Kriegsverbrechen.
Einige der von Amnesty International dokumentierten Angriffe waren entweder wahllos oder unverhältnismässig – ein Verstoss gegen fundamentale Prinzipen des humanitären Völkerrechts und ein mögliches Kriegsverbrechen. In anderen Fällen gefährdete die Anwesenheit von Kämpfern in der Nähe ziviler Wohnhäuser oder medizinischer Einrichtungen die Zivilbevölkerung.
Unter denjenigen, die getötet oder verletzt wurden, sind Kinder, die auf der Strasse spielten, Trauergäste einer Beerdigung oder ganz gewöhnliche Menschen, die ihren Alltagsgeschäften nachgingen.
«Was für ein Krieg ist das, bei dem Zivilpersonen, Familien in ihren Häusern getötet werden? Was können wir tun? Möge Gott uns beistehen», klagte eine Frau gegenüber Amnesty International. Ihr 56-jähriger Ehemann und Vater ihrer sechs Kinder war bei einem Raketeneinschlag in seinem eigenen Schlafzimmer getötet worden, als er sich nach einem Fussballspiel ausruhte.
Der Einschlag geschah während eines wahllosen Raketenangriffs der LNA auf ein Wohngebiet in dem Vorort Abu Salim im Südwesten von Tripolis am 16. April 2019. Eine Salve von sechs Grad-Raketen, die für ihre Ungenauigkeit bekannt sind, traf mehrere Wohnblöcke, tötete acht ZivilistInnen und verletzte mindestens vier weitere. Die Überlebenden sind schwer traumatisiert.
Auch bei Luftangriffen der GNA auf Qasr Bin Ghashir und Tarhouna wurden zivile Wohnhäuser und Einrichtungen getroffen. Dabei setzten die GNA-Truppen ungelenkte FAB-500ShL Fallschirmbomben ein, die mit einem Explosionsradius von über 800 Metern für den Einsatz in Stadtgebieten völlig ungeeignet sind.
Angriffe auf den Flughafen und auf Feldlazarette
Der Mitiga-Flughafen war monatelang der einzige funktionierende Flughafen von Tripolis. Nach mehreren Angriffen durch die LNA ist er jetzt geschlossen. Auch Wohngebäude und eine Schule in der Nähe wurden bei offensichtlich wahllosen Angriffen getroffen.
Ausserdem beschädigten oder zerstörten die LNA-Truppen mehrere Ambulanzen und Feldlazarette, in denen verwundete Kämpfer behandelt worden waren. So wurden bei einem Raketenangriff auf ein Lazarett in der Nähe des Flughafens am 27. Juli 2019 fünf NotfallmedizinerInnen getötet und acht weitere verletzt. Gemäss humanitärem Völkerrecht geniessen medizinische Fachkräfte und Einrichtungen – auch solche, die verwundete Kämpfer behandeln – besonderen Schutz und dürfen nicht angegriffen werden. Amnesty International stellte jedoch fest, dass GNA-Truppen Feldlazarette und andere medizinische Einrichtungen für militärische Zwecke genutzt haben – was diese zu Angriffszielen macht.
Uno-Waffenembargo verletzt
Seit 2011 gilt ein umfassendes Waffenembargo der Vereinten Nationen. Doch ungeachtet dessen unterstützen namentlich die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und die Türkei die LNA, beziehungsweise die GNA durch illegale Waffenlieferungen und direkte militärische Hilfe. «Die internationale Gemeinschaft muss das Uno-Waffenembargo zwingend respektieren», fordert Brian Castner.
«Alle Seiten müssen umgehend konkrete Massnahmen ergreifen, um in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht die Zivilbevölkerung zu schützen. Ausserdem müssen sie das Verhalten ihrer Streitkräfte untersuchen. Es muss eine Untersuchungskommission eingesetzt werden, um für die Opfer und ihre Angehörigen den Weg für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu ebnen», fordert Donatella Rovera.
Schweiz sollte sich stärker engagieren
In seiner Antwort auf eine parlamentarische Intervention erinnerte der Bundesrat daran, dass sich die Schweiz für Libyen einsetzt, mit dem Ziel, die Lebensbedingungen zu verbessern und die gefährdete lokale Bevölkerung zu schützen. Zudem setzte sich die Schweiz für die Stärkung der Achtung der Menschenrechte ein.
Amnesty International fordert vomn Bundesrat ein weitergehendes Engagement.
Amnesty International begrüsst dieses Engagement, fordert aber den Bundesrat auf, weiter zu gehen. Die Schweiz sollte sich federführend an einer robusteren Politik innerhalb der internationalen Institutionen beteiligen, um sicherzustellen, dass die Konfliktparteien in Zukunft für Verstösse gegen internationales Recht zur Verantwortung gezogen werden.
So könnte die Schweiz beispielsweise dem Uno-Menschenrechtsrat einen Resolutionsentwurf vorlegen, in dem sie die Einsetzung einer Untersuchungskommission fordert, die Menschenrechtsverletzungen in Libyen dokumentiert und Belege sichert.