Im Rahmen der Aktion «#LetThemFly» greift Amnesty International die Fälle von 30 saudi-arabischen Menschenrechtsverteidiger*innen auf, die in grob unfairen Verfahren zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden und gegen die direkt nach dem Ende ihrer Haftstrafe einem Reiseverbot verfügt wurde, darunter Raif Badawi und die Frauenrechtsaktivistin Loujain al-Hathloul. Dokumentiert werden ausserdem 39 Fälle, in denen Familienangehörige von Aktivist*innen – ohne offizielle Anordnung oder sonstige Mitteilung – ebenfalls unter ein Reiseverbot gestellt wurden. Dadurch werden Familien von den Behörden faktisch auseinandergerissen.
«Abweichende Meinungen werden auch weiterhin rücksichtslos unterdrückt, während die politische Führung von progressiven Reformen redet.» Lynn Maalouf, stellvertretende Direktorin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International
«Der willkürliche Einsatz von Reiseverboten gegen Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen durch die saudi-arabischen Behörden spiegelt die düstere Realität in dem Land wider, in dem abweichende Meinungen auch weiterhin rücksichtslos unterdrückt werden, während die politische Führung von progressiven Reformen redet», sagt Lynn Maalouf, stellvertretende Direktorin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
«Aktivist*innen, die es gewagt haben, in irgendeiner Form Kritik oder Überzeugungen zu äussern, die der Führung des Landes nicht gefallen, wurden mit rechtswidrigen und zur Bestrafung gedachten Reiseverboten belegt, die ihr Recht auf Bewegungsfreiheit beschneiden und Auswirkungen auf wichtige Entscheidungen in ihrem Leben haben. Die saudi-arabischen Behörden müssen alle Reiseverbote aufheben, diesem repressiven Vorgehen ein Ende setzen und damit beginnen, die Rechte auf freie Meinungsäusserung und Bewegungsfreiheit zu respektieren.»
Grausame Lebenseinschränkungen
Amnesty International hat mit acht saudischen Aktivist*innen gesprochen, die selbst mit einem Reiseverbot belegt waren oder deren Angehörige in Saudi-Arabien davon betroffen sind. Die im Ausland lebenden Aktivist*innen erzählten, wie sehr sie darunter litten, ihre Familien nicht sehen oder nicht in ihr Heimatland reisen zu können. Sie befürchten, bei einer Rückkehr nach Saudi-Arabien willkürlich festgenommen und inhaftiert zu werden.
Am 11. März 2022 wurde Raif Badawi, ein saudi-arabischer Blogger und Aktivist, nach Verbüssen einer zehnjährigen Haftstrafe freigelassen. Sollte jedoch sein Reiseverbot nicht aufgehoben werden, wird er seine Frau und seine Kinder weitere zehn Jahre nicht sehen können. Seine Verurteilung erfolgte nach einem grob unfairen Verfahren, das auf Anschuldigungen beruhte, die sich ausschliesslich auf die Einrichtung eines Online-Diskussionsforums bezogen, für die er der Beleidigung des Islam beschuldigt wurde. Raif Badawi wurde ausserdem zu einer Strafe von 1000 Stockhieben verurteilt, von denen die ersten 50 am 9. Januar 2015 auf einem öffentlichen Platz in Dschidda vollstreckt wurden, was einen Verstoss gegen das Verbot von Folter und anderen Misshandlungen darstellt.
Abdulrahman al-Sadhan, ein Mitarbeiter der Organisation Internationaler Roter Halbmond in Riad, wurde am 12. März 2018 wegen des Betriebs eines satirischen Twitter-Kontos festgenommen und dann ohne Kontakt zur Aussenwelt festgehalten. Er war zwei Jahre lang «verschwunden». Am 5. April 2020 wurde er zu 20 Jahren Gefängnis und einem daran anschliessenden 20-jährigen Reiseverbot verurteilt, und das nur, weil er sein Recht auf freie Meinungsäusserung wahrgenommen hatte. Abdulrahman al-Sadhan befindet sich weiter in Haft, wo er weder Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung noch regelmässigen Kontakt zu seiner Familie hat.
«Sie reissen Familien auseinander»
Wie die in den USA lebende Schwester von Abdulrahman al-Sadhan, Areej al-Sadhan, Amnesty International mitteilte, führen Reiseverbote dazu, dass Menschen durch die massiven Auswirkungen auf ihr Berufs- und Privatleben kein normales Leben mehr führen können. Sie fügte hinzu, dass die Trennung von der Familie einen hohen psychischen und emotionalen Tribut fordern würde.
«Sie reissen Familien auseinander. Das ist ungerecht, illegal und unmenschlich.»Areej al-Sadhan, Schwester des inhaftierten Abdulrahman al-Sadhan, Mitarbeiter der Organisation Internationaler Roter Halbmond in Riad.
«Sie reissen Familien auseinander. Das ist ungerecht, illegal und unmenschlich», so Areej al-Sadhan. «Mit einem Reiseverbot wird Saudi-Arabien zum Gefängnis, zu einem Ort der Bestrafung, einem Ort, der den Menschen ihre Freiheit nimmt und Bürger*innen von ihrem Heimatland entfremdet.»
Hintergrund
Saudi-Arabien setzt bereits seit vielen Jahren Reiseverbote ein, um kritische, abweichende Meinungen sowohl im In- als auch im Ausland zu unterdrücken.
Im Oktober 2021 veröffentlichte die in den USA-ansässige Menschenrechtsorganisation The Freedom Initiative, die sich für die Freilassung zu Unrecht inhaftierter Gefangener im Nahen Osten und in Nordafrika einsetzt, einen Bericht, in dem mindestens 89 Fälle dokumentiert sind, in denen US-amerikanische Staatsangehörige oder mit einem dauerhaften Aufenthaltsstatus in den USA lebende Personen in Saudi-Arabien inhaftiert oder mit einem Reiseverbot belegt wurden.