Saudi-Arabien hat vermutlich mindestens ein Social-Media-Unternehmen unterwandert, um rechtswidrig an Informationen über Regierungskritiker*innen zu gelangen und zu kontrollieren, was online über das Königreich verbreitet wird.
«Saudi-Arabien ist seit langem für sein hartes Vorgehen gegen Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und Mitglieder der Zivilgesellschaft bekannt. Nun gehen sie auch gegen ‚normale‘ Personen aus der Öffentlichkeit vor, die online friedlich Gebrauch von ihrem Recht auf freie Meinungsäusserung machen. Die schockierenden Verurteilungen sollen eine Mahnung an Bürger*innen und Einwohner*innen Saudi-Arabiens sein und sie daran erinnern, dass abweichende Meinungen nicht toleriert werden», sagte Philip Luther, Direktor für Research und Lobbyarbeit im Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
«Gleichzeitig versucht Saudi-Arabien, Online-Plattformen zu unterwandern, um dort die Informationen zu kontrollieren, die über das Königreich und die Regierung verbreitet werden. Dieses repressive Vorgehen entlarvt die Scheinheiligkeit eines Landes, das zur selben Zeit internationale Events ausrichtet, die vorgeben, sich für den freien Fluss von Informationen im Internet stark zu machen.»
Jahrzehntelange Haft wegen kritischer Tweets
Zu den Verhafteten gehört Salma al-Shehab. Die PhD-Studentin der Leeds University und Mutter von zwei Kindern kommt aus Saudi-Arabien und gehört der Shi‘a-Minderheit an. Ihre ursprüngliche Haftstrafe von sechs Jahren wurde im August 2022 in einem Rechtsmittelverfahren durch das Sonderstrafgericht von Saudi-Arabien auf 34 Jahre verlängert, gefolgt von einem 34 Jahre langen Reiseverbot. Ihr Mobiltelefon wurde beschlagnahmt und ihr wurde befohlen ihren Twitter-Account zu deaktivieren. Sie wurde 285 Tage lang in Einzelhaft gehalten und während ihrer gesamten Untersuchungshaft wurde ihr der Zugang zu einem Rechtsbeistand verweigert. Verurteilt wurde sie schliesslich wegen ihrer Nutzung von Twitter zur Unterstützung von Frauenrechtsaktivist*innen wie Loujain al-Hathloul. Salma al-Shehab hatte rund 2.000 Follower*innen.
Am selben Tag, an dem Salma al-Shehab zu 34 Jahren Haft verurteilt wurde, wurde auch die Haftstrafe von Noura al-Qahtani, einer fast 50-jährigen saudischen Frau und Mutter von fünf Kindern, von 13 auf 45 Jahre verlängert. Es wurde ausserdem ein 45 Jahre langes Reiseverbot über sie verhängt, ihr Mobiltelefon beschlagnahmt und ihr Twitter-Account deaktiviert. Nach Informationen von Amnesty International handelt es sich hierbei um die längste Haftstrafe, zu der eine Frau in Saudi-Arabien jemals wegen friedlicher Meinungsäusserung im Internet verurteilt wurde.
Mit Antiterrorgesetzen gegen freie Meinungsäusserung
Alle 15 Personen, deren Fälle Amnesty recherchiert hat, standen vor dem Sonderstrafgericht von Saudi-Arabien (SCC) unter Anklage. Das Gericht wurde ursprünglich für Terrorismusfälle eingerichtet und missbraucht vage Bestimmungen auf Grundlage der Gesetze gegen Cyberkriminalität und Terrorismus, um friedliche Meinungsäusserung und Online-Aktivitäten mit «Terrorismus» gleichzusetzen und strafrechtlich zu verfolgen. Amnesty International hat dokumentiert, dass sich in jeder Phase der Verfahren vor dem Sonderstrafgericht Menschenrechtsverletzungen nachweisen lassen. Auch während der Inhaftierung sind die Personen zahlreichen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Sie werden unter anderem monatelang ohne Kontakt zur Aussenwelt und unter Isolationsbedingungen festgehalten und ihnen wird während der Untersuchungshaft der Zugang zu einem Rechtsbeistand verwehrt. Einige von ihnen unterliegen ausserdem willkürlichen Reiseverboten, was gegen internationale Menschenrechtsnormen verstösst.
Die extremen Verlängerungen der Haftstrafen, die durch das Sonderstrafgericht angeordnet wurden, erfolgten im Anschluss an die Ernennung eines neuen Vorsitzenden Richters im Juni 2022. Der Richter war zuvor Teil einer Delegation gewesen, die im Oktober 2018 von den saudischen Behörden nach Istanbul geschickt worden war. Laut Aussagen des Uno-Sonderberichterstatters für aussergerichtliche, summarische und willkürliche Hinrichtungen soll die Delegation dort ssBeweise für die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat beseitigt haben.
Das scharfe Vorgehen gegen die Meinungsfreiheitss im Internet ist nur eines der Werkzeuge, die die saudischen Behörden nutzen, um kritische Stimmen zu unterdrücken. Bis Februar 2023 hat Amnesty die Fälle von 67 Personen dokumentiert, die wegen der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäusserung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit strafrechtlich verfolgt wurden, wie Menschenrechtsverteidiger*innen, friedliche politische Aktivist*innen, Journalist*innen, Dichter*innen, Geistliche und andere. Darunter waren auch 32 Personen, die wegen ihrer friedlichen Meinungsäusserung in den Sozialen Medien strafrechtlich verfolgt wurden. Amnesty ist sich der Tatsache bewusst, dass die tatsächliche Zahl derartiger Strafverfolgungen wahrscheinlich noch viel höher liegt.
Zugriff auf Twitter-Konten
Es ist noch unklar, wie die saudische Regierung es geschafft hat, die Personen zu identifizieren oder aus welchem Grund sie verfolgt werden. Die aktuellen strafrechtlichen Verfolgungen gehen allerdings mit Enthüllungen einher, die vermuten lassen, dass saudische Behörden Twitter unterwandert haben, um dort an Informationen über Regierungskritiker*innen zu gelangen.
Schon im Dezember 2022 verurteilte ein US-Gericht den ehemaligen Twitter-Manager Ahmad Abouammo wegen Spionage für Saudi-Arabien durch «Zugang, Überwachung und Übermittlung vertraulicher und sensibler Informationen, die im Interesse der saudischen Königsfamilie zur Identifizierung und Lokalisierung von Twitter-Nutzer*innen verwendet werden könnten.»
Laut der Anklageschrift, die von Amnesty International überprüft wurde, hatte Ahmad Abouammo Namen und Informationen von Twitter-Konten zur Verfügung gestellt, die «kritische oder heikle Informationen über die saudische Königsfamilie und die Regierung des Königreichs von Saudi-Arabien veröffentlichen.» Darüber hinaus heisst es in der Anklageschrift, dass ein*e saudische*r Staatsbedienstete*r mit Ahmad Abouammo kommuniziert und verlangt habe, dass ein Twitter-Konto, das «kritische Informationen über die saudische Königsfamilie» verbreitet hatte, gelöscht und die persönlichen Daten der Person, die das Konto unterhält, geteilt werden sollten.
«Die saudischen Behörden müssen alle Personen, die nur aufgrund der friedlichen Ausübung ihres Rechts auf Meinungsäusserung in Haft sind, umgehend und bedingungslos freilassen. Twitter sollte darüber hinaus interne Untersuchungen durchführen, um zu ermitteln, welche Auswirkungen die Infiltrationsversuche der saudischen Behörden auf seine Arbeit haben, sofern dies nicht bereits geschehen ist. Die Ergebnisse sollten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Twitter sollte ausserdem deutlich machen, welche Massnahmen es ergreifen wird, um Verstösse dieser Art in der Zukunft zu vermeiden», sagt Philip Luther.