Der 70-seitige Report «Deadly Reprisals» («Tödliche Vergeltungsmassnahmen») belegt mit zahlreichen Beispielen die verbreiteten und systematischen Menschenrechtsverletzungen, darunter auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die als Teil einer staatlichen Vergeltungs- und Einschüchterungsstrategie gegenüber Dorfgemeinschaften begangen werden, welche der Unterstützung der Opposition verdächtigt werden.
Organisiertes Muster
«Die Beispiele verweisen auf ein organisiertes Muster schwerer Menschenrechtsverletzungen, einschliesslich Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die von Regierungstruppen und Milizen völlig straflos begangen werden», sagte die Krisenbeauftragte von Amnesty International, Donatella Rovera, die kürzlich mehrere Wochen im Norden Syriens verbracht hat, um Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. «Sie unterstreichen die Dringlichkeit eines entschlossenen Handelns der internationalen Gemeinschaft, um die eskalierenden Angriffe auf die Zivilbevölkerung einzudämmen.»
Aus den Häusern geschleppt und erschossen
Amnesty International hat zwischen Mitte April und Ende Mai 23 Städte und Dörfer in den Bezirken Aleppo und Idlib besucht. In manchen dieser Gebiete hatten die syrischen Streitkräfte breit angelegte Angriffe durchgeführt, einige auch während der laufenden Verhandlungen über die Umsetzung des Annan-Plans.
In jedem der besuchten Orte beschrieben trauernde Familien gegenüber Amnesty International, wie ihre Verwandten - junge und alte, einschliesslich Kinder - aus den Wohnungen und Häusern geschleppt und von Soldaten erschossen wurden. Manchmal wurden die Leichen anschliessend in Brand gesetzt.
Niedergebrannte Häuser
Soldaten und Shabiha-Milizen brannten Häuser nieder und schossen wahllos in Wohngebiete, wo unbeteiligte Zivilpersonen getötet und verletzt wurden. Wer festgenommen wurde, auch kranke und alte Menschen, wurde routinemässig gefoltert, mitunter bis zum Tode. Viele wurden zum Verschwinden gebracht; niemand weiss, wo sie sind.
«Wo immer ich hinkam, habe ich verzweifelte Frauen und Männer getroffen, die fragten, warum die Welt zuschaut und nichts unternimmt», sagte Donatella Rovera. «Diese Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft leistet weiteren Übergriffen Vorschub. Angesichts der ständigen Verschlechterung der Situation und der täglich steigenden Zahl von Toten muss die internationale Gemeinschaft endlich aktiv werden, um die Gewaltspirale zu stoppen.»
Zielscheibe der Regierungsattacken sind Städte und Dörfer, die als Hochburgen der Opposition betrachtet werden, unabhängig davon, ob Zusammenstösse mit der Freien Syrischen Armee (FSA) stattgefunden haben oder die Opposition sich still verhält.
Bluttaten der Shabiba-Miliz
In Aleppo, der grössten syrischen Stadt, hat Amnesty International in der letzten Mai-Woche beobachtet, wie uniformierte Sicherheitskräfte und zivil gekleidete Angehörige der Shabiha-Miliz mit scharfer Munition auf friedliche Demonstranten feuerten und dabei Demonstrationsteilnehmende wie auch Passanten erschossen und verletzten, darunter auch Kinder. Übergriffe nach diesem Muster wurden aber längst nicht nur in dieser Region beobachtet. Auch das Massaker in Hula am 25. Mai verlief in dieser Weise, dabei kamen gemäss Uno-Angaben 108 Personen ums Leben, darunter 49 Kinder und 34 Frauen; die meisten wurden aus nächster Nähe exekutiert.
Seit dem Ausbruch der Proteste im Februar 2011 hat Amnesty International die Namen von mehr als 10'000 Menschen erhalten, die während der Unruhen getötet worden sind. Die Gesamtzahl der Toten dürfte in Wirklichkeit noch weit darüber liegen.
Waffenembargo dringender denn je
Im Bericht fordert Amnesty International den Uno-Sicherheitsrat einmal mehr auf, die Situation in Syrien dem Ankläger des Internationalen Strafgerichtshof vorzulegen und ein Waffenembargo über Syrien zu verhängen mit dem vorrangigen Ziel, den anhaltenden Zufluss von Waffen an die syrische Regierung zu stoppen. An die Regierungen von Russland und China geht die Forderung, sofort alle Lieferungen von Waffen, Munition und jeglicher Ausrüstungsgüter für Militär und Polizei ebenso wie Training und personelle Unterstützung an die syrische Regierung einzustellen. Weiter fordert Amnesty International den Sicherheitsrat auf, ein Einfrieren der Vermögen von Präsident Bashar al-Assad und anderen, die in Syrien Verbrechen nach internationalem Recht anordnen oder begehen, anzuordnen.