Sie haben eine entbehrliche, gefährliche Reise hinter sich. Alan Mohammed (30) und seine Schwester Gyan (28) leiden beide seit Geburt an einer schweren Muskelkrankheit. Als der selbsternannte Islamische Staat IS sich 2014 ihrem Dorf in Nordostsyrien näherte, wagten die beiden gehbehinderten Geschwister mir ihrer Familie die beschwerliche Flucht über die Berge in die Türkei. Dreimal versuchte die Familie die türkische Grenze zu überqueren, sie wurde aber jedes Mal von türkischen Sicherheitskräften beschossen, weshalb sie in den Nordirak weiterreisen musste. Dort blieb die Familie zunächst eineinhalb Jahre, musste dann aber erneut vor dem IS fliehen.
«Diese Reise ist für nicht-Behinderte schon äusserst schwierig. Aber für Behinderte wie uns grenzt es an ein Wunder, das zu schaffen» erzählt Alan. «Das Grenzgebiet zwischen den beiden Ländern besteht aus Bergen.» In Säcken an ein Pferd angehängt und von einer weiteren Schwester geführt, schafften es Alan und Gyan in die Türkei. Da der Vater mit der jüngsten Schwester bereits in Deutschland angekommen war, war das Ziel klar: Mit einem Boot über das Meer nach Europa. Ohne Rollstühle wurden sie von Schmugglern in ein völlig überfülltes Schlauchboot gepackt.
Gestrandet
«Es war der Horror», erzählt Alan. «Wir waren vier Stunden auf dem Wasser. Babys und Kleinkinder weinten. Meine Mutter fiel in Ohnmacht und meine Schwester war überzeugt, dass sie das nicht schaffen würde.»
Am 12. März, kurz bevor das Flüchtlings-Abkommen zwischen der Türkei und der EU in Kraft trat, erreichte die Familie die griechische Insel Chios. Die Hoffnung, als Behinderte einen leichteren Zugang nach Europa zu haben und zum Vater nach Deutschland weiterreisen zu können, zerschlug sich jedoch.
Kein Ort für Rollstuhlfahrende
Seither sind sie unter harten Lebensbedingungen im Ritsona-Flüchtlingslager untergebracht, einem ehemaligen Militärcamp inmitten eines Waldes – eine Unterbringung, die für zwei Rollstuhlfahrende mit Muskelschwäche nicht geeinget ist.
«Die beiden haben Unglaubliches durchgemacht und viel Stärke bewiesen. Ihre Geschichte zeigt das Versagen der europäischen Staaten, insbesondere auch besonders verletzlichen Menschen Schutz zu bieten», sagt Monica Costa Riba, Campaignerin von Amnesty International. «Die griechischen Behörden müssen mit Hilfe der europäischen Staaten die Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Griechenland verbessern. Vor allem aber müssen die europäischen Staaten mehr Flüchtlinge wie Alan und Gyan aufnehmen und die Zusammenführung mit Familienmitgliedern ermöglichen.»
Nachtrag
Am 26. September, nach fast sieben Monaten in Griechenland, erhielten Alan, Gyan und ihre Familie einen ersten Termin, um ihr Asylgesuch zu deponieren und das Verfahren für eine Familienzusammenführung mit ihrem Vater und der Schwester in Deutschland einzuleiten. Nach diesem Treffen wurden sie aus vom Ritsona Camp in eine neue Unterkunft überführt, die ihren Bedürfnissen besser entspricht. «Ich bin sehr glücklich», erzählt Alan. «Endlich sind wir an einem sauberen, warmen Ort untergebracht.» Alans Gedanken sind aber noch immer bei den Flüchtlingen, die weiterhin im Ritsona-Camp ausharren müssen: «Es tut mir leid für alle diejenigen, die ich dort zurücklassen musste. Es hat dort Kinder und Babies, die in einer schrecklichen Lage sind. Bitte vergesst sie nicht!»