Im Januar 2018 lancierten die türkische Armee und verbündete syrische Milizen eine Offensive auf die nordsyrische Stadt Afrin und gegen die kurdische YPG. Drei Monate später erlangten sie die Kontrolle über Afrin und die umliegenden Dörfer. Tausende von Zivilpersonen wurden vertrieben. Seither ist die türkische Armee im Zentrum Afrins präsent und pro-türkische bewaffnete Gruppen wie Ferqa 55, Jabha al-Shamiye, Faylaq al-Sham, Sultan Mourad und Ahrar al-Sharqiye kontrollieren die Region.
Das in Beirut ansässige Syrien-Team von Amnesty International hat zwischen Mai und Juli 2018 32 ausführliche Interviews mit Einwohnerinnen und Einwohnern von Afrin und mit Vertriebenen geführt. Diese berichteten übereinstimmend von schweren Menschenrechtsverletzungen durch die genannten Milizen, die zumeist von der türkischen Armee ausgerüstet und mit Waffen versorgt wurden. (Details in der englischsprachigen Medienmitteilung)
«Milizen erledigen die Drecksarbeit»
«Die militärische Offensive und Besatzung durch die Türkei hat das Leid der Bewohnerinnen und Bewohner von Afrin, die bereits seit Jahren einen blutigen Konflikt durchleben, noch verschlimmert. Wir hörten erschreckende Berichte über Menschen, die von syrischen bewaffneten Gruppen festgenommen, gefoltert oder gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurden. Die türkischen Streitkräfte unternahmen offensichtlich nichts dagegen», sagte Lynn Maalouf, Rechercheleiterin von Amnesty International für den Nahen Osten.
«Die Türkei ist Besatzungsmacht in Afrin und somit für das Wohlergehen der Zivilbevölkerung und die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung verantwortlich. Bislang haben die Streitkräfte diese Aufgaben völlig vernachlässigt. Die Türkei kann sich der Verantwortung nicht entziehen, indem sie bewaffnete syrische Gruppen die Dreckarbeit erledigen lässt. Ohne weitere Verzögerung muss die Türkei die Menschenrechtsverletzungen beenden, die Täter zur Rechenschaft ziehen und sich verpflichten, den Bewohnern Afrins beim Wiederaufbau zu helfen».
Willkürliche Verhaftungen und Verschwindenlassen
Verschiedene Augenzeugen beschrieben willkürliche Verhaftungen, teilweise verbunden mit Folter und Misshandlung. Die Verhaftungen erfolgten zumeist weil die Betroffenen ihr Eigentum zurückverlangten, oder aufgrund unbelegter Vorwürfe über die Zugehörigkeit zur YPG oder deren Unterstützung. Lokale Quellen berichteten von mindestens 86 Fällen von willkürlichen Verhaftungen, Folter und Verschwindenlassen.
Beschlagnahmung und Diebstahl privaten Besitzes
Seit März 2018 sind trotz erheblicher Hindernisse Hunderte Vertriebener nach Afrin zurückgekehrt. Zahlreiche von ihnen fanden ihre Häuser und ihren Besitz von bewaffneten Gruppen besetzt vor. In anderen Fällen lebten Vertriebene aus Ost-Ghouta und Homs in den Häusern.
Viele Rückkehrer berichteten auch von völlig ausgeräumten Häusern und Geschäften sowie davon, dass teure Apparate wie Fernseher, Computer oder Waschmaschinen gestohlen wurden. Zeugenaussagen hierzu finden sich ebenfalls in der englischsprachigen Medienmitteilung.
Schulen vom Militär besetzt
Seit Januar 2018 gibt es praktisch keinen geordneten Schulunterricht mehr in Afrin. Bewohner berichteten Amnesty, dass in der Stadt nur noch eine Schule in Betrieb ist; die Universität wurde zerstört und geplündert. Sowohl die türkische Armee selbst als auch mit ihr verbündete syrische Milizen benutzen Schulen als Militärstützpunkte und unterbrechen damit die Ausbildung Tausender von Schülerinnen und Schülern.
Tausende Vertriebene in al-Shaba blockiert
Im Zuge der türkischen Militäroffensive auf Afrin flohen Tausende in die nahegelegene Region al-Shaba. Mindestens 140‘000 Menschen sitzen dort nach wie vor unter menschenunwürdigen Bedingungen, ohne zureichende medizinische Versorgung, fest. Sowohl die YPG als auch die syrische Regierung verlängern und verstärken mit einer Blockadepolitik das Leid der Vertriebenen: Die syrische Regierung hat es bisher verhindert, dass sie in andere Regionen Syriens ziehen können. Die YPG blockiert ihrerseits die Zufahrtstrassen nach Afrin und hindert damit die Vertriebenen an einer Rückkehr nach Afrin; nach dem Ende der türkischen Offensive im März sind dennoch Hunderte zu Fuss in langen Märschen zurückgekehrt.
Besonders schwierig ist die Lage von Kranken und Verletzten. 300 chronisch Kranke warten auf ihre Evakuierung aus al-Shaba; nur 50 Personen hat die syrische Regierung bislang den Transfer in ein Spital in Aleppo gestattet.
Die völkerrechtlichen Verpflichtungen
Die Türkei ist als Besatzungsmacht aufgrund der Genfer Konventionen völkerrechtlich für den Schutz und das Wohlergehen der Zivilbevölkerung verantwortlich. Daraus ergibt sich die Verpflichtung für die Türkei, die Menschenrechtsverletzungen der von ihr unterstützten bewaffneten Gruppen unverzüglich zu beenden, die Fälle von willkürlichen Verhaftungen und Verschwindenlassen zu untersuchen sowie die Verantwortlichen im Rahmen fairer Prozesse zur Rechenschaft zu ziehen.
Zudem muss die Türkei sicherstellen, dass Zurückkehrende ihren Besitz wiedererlangen können und für ihre Verluste durch Zerstörung oder Diebstahl entschädigt werden. Als Besatzungsmacht obliegt es der Türkei zudem, alles zu tun, in Afrin einen geordneten Schulunterricht zu gewährleisten.
Amnesty International ruft die syrische Regierung und die kurdische YPG auf, die Bewegungsfreiheit der Vertriebenen nicht weiter einzuschränken und ihnen eine Rückkehr nach Afrin oder einen Umzug in andere syrische Regionen zu ermöglichen.