Der Bericht von Amnesty International führt unter dem Titel «Nowhere is safe for us': Unlawful attacks and mass displacement in north-west Syria» detailliert 18 Fälle auf, die meisten aus der Zeit zwischen Januar und Februar 2020: Sie belegen, dass syrische und/oder russische Regierungstruppen gezielt Angriffe gegen medizinische Einrichtungen und Schulen in Idlib, West-Aleppo und im nordwestlichen Gouvernement Hama verübt haben.Bis zum Waffenstillstand am 5. März 2020 musste nahezu eine Million Menschen in Idlib wegen der Angriffe fliehen. Viele von ihnen waren bereits zuvor mehrfach vertrieben worden und mussten in den vergangenen Monaten unter erbärmlichen Bedingungen leben.
«Selbst gemessen an den katastrophalen Bedingungen, die durch die seit neun Jahren andauernde Krise in Syrien herrschen, sind die Vertreibung und die humanitäre Katastrophe, die nun durch den jüngsten Angriff ausgelöst wurden, beispiellos», sagt Heba Morayef, Direktorin für die Region Nahost und Nordafrika bei Amnesty International. «Der Uno-Sicherheitsrat darf jetzt nicht die lebenswichtige grenzüberschreitende humanitäre Hilfe unterbrechen, von der Tausende Menschenleben abhängen.»
«Die jüngste Offensive setzt die abscheuliche Reihe systematischer Angriffe fort, durch die die Zivilbevölkerung terrorisiert werden soll. Derweil unterstützt Russland nach wie vor das syrische Regime militärisch – auch mit rechtswidrigen Luftschlägen – obwohl es Beweise gibt, dass Russland damit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit des syrischen Militärs Vorschub leistet.»
Umfassende Beweise belegen Zeugenaussagen
Amnesty International hat für den vorliegenden Bericht 74 Personen interviewt, darunter Binnenvertriebene, Lehrerpersonen, ÄrztInnen und Mitarbeitende von Hilfsorganisationen. Die Aussagen der Zeugen und Zeuginnen wurden nicht nur durch Video- und Fotoaufnahmen untermauert, sondern darüber hinaus auch durch Expertenanalysen von Satellitenbildern, Berichte von Planespottern vor Ort sowie durch abgehörte Kommunikation von russischen und syrischen Luftstreitkräften.
Die Aufnahmen aus den Cockpits liefern Beweise dafür, dass das russische Militär an mindestens einem rechtswidrigen Angriff auf ein Spital beteiligt war, das danach seine Arbeit einstellen musste.
Angriffe auf Spitäler
Laut Angaben der Gesundheitsbehörde von Idlib wurden zwischen Dezember 2019 und Februar 2020 in Idlib und Aleppo zehn medizinische Einrichtungen durch russische und syrische Angriffe beschädigt bzw. zerstört. Dabei wurden neun Angehörige des medizinischen Personals und andere Mitarbeitende getötet. Dutzende weitere medizinische Einrichtungen sahen sich gezwungen, ihre Arbeit einzustellen.
Amnesty International hat Angriffe dokumentiert, die zur Schliessung von fünf Spitälern in den von bewaffneten Oppositionsgruppen kontrollierten Gebieten führten.
Drei russische Luftschläge wurden am 29. Januar 2020 in der Nähe des al-Shami-Hospitals in Ariha ausgeführt. Ein überlebender Arzt beschrieb, dass durch die Angriffe mindestens zwei Wohngebäude unweit des Spitals zerstört wurden; 11 Zivilpersonen wurden getötet und über 30 verletzt. Unter den Toten war auch einer seiner Kollegen.
«Ich fühlte mich so hilflos. Mein Freund lag im Sterben, draussen schrien Frauen und Kinder», sagte er und fügte hinzu, dass der syrische Zivilschutz (Weisshelme) zwei Tage gebraucht habe, um die Leichen aus den Trümmern zu bergen.
Auf der Grundlage übereinstimmender Zeugenaussagen und anderer glaubwürdiger Informationen − vor allem Beobachtungen sogenannter Planespotter − kommt Amnesty International zum Schluss, dass russische Streitkräfte für diesen rechtswidrigen Angriff verantwortlich waren.
Angriffe auf Schulen
Laut Angaben der syrischen NGO Hurras Network (Syrian Child Protection Network) wurden bei Luftschlägen und Bodenangriffen im Januar und Februar 2020 insgesamt 28 Schulen getroffen. Am 25. Februar wurden an einem einzigen Tag zehn Schulen angegriffen. Dabei kamen neun Zivilpersonen ums Leben.
Amnesty International hat Recherchen zu sechs Angriffen in diesem Zeitraum durchgeführt, darunter zum Abwurf von Fassbomben und vom Boden abgefeuerter Streumunition auf zwei Schulen am 25. Januar sowie am 28. Februar 2020.
«Als ob aus dem Himmel kein Wasser, sondern Granatsplitter regnen würde.» Lehrerin, die bei einem Angriff auf ihre Schule verletzt wurde.
Eine Lehrerin schilderte Amnesty International einen Angriff: «Ein [Streubomben-] Geschoss explodierte vor meinen Füssen, Haut und Fleisch platzen auf … der Schmerz war unerträglich … Ich spürte eine solche Hitze, als würden meine Füsse verbrennen. Zwei Schülerinnen waren in diesem Moment bei mir. Eine war sofort tot, die andere überlebte wie durch ein Wunder. Ich bin sicher, dass es Streumunition war, weil ich mehrere Explosionen hörte. Ich kenne das Geräusch von Streumunition sehr gut. Du hörst eine Serie von mehreren Explosionen. Als ob aus dem Himmel kein Wasser, sondern Granatsplitter regnen würde.»
Die Untersuchungsergebnisse von Amnesty International ergaben, dass es sich bei den hier beschriebenen Geschossen um 9M27K-Frachtraketen mit einem Kaliber von 220 mm handelte, die in Russland hergestellt und an die syrische Armee geliefert wurden. Sie enthielten 9N210- oder 9N235-Streumunition. Streumunition ist nach dem Völkerrecht verboten.
Vorsätzliche Angriffe gegen Zivilpersonen
Die in dem Bericht dokumentierten Fälle zeigen beispielhaft, dass die syrischen und russischen Streitkräfte nach wie vor gezielt Angriffe gegen Zivilpersonen und zivile Ziele verüben. Dabei handelt es sich um Verletzungen des humanitären Völkerrechts, auf dessen Grundlage die Parteien in einem bewaffneten Konflikt zwischen militärischen Zielen und kämpfenden Personen auf der einen Seite und zivilen Zielen und Zivilpersonen auf der anderen Seite unterscheiden müssen und nur die erstgenannten angegriffen werden dürfen.
Es handelt sich bei diesen Attacken zudem um Kriegsverbrechen. Diejenigen, die derartige Verbrechen anordnen oder begehen, sind strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Spitäler und andere medizinische Einrichtungen, medizinisches Personal und Kinder dürfen nicht nur nicht angegriffen werden, weil sie einen zivilen Status haben, sondern müssen in einem bewaffneten Konflikt besonders geschützt werden.
Viele der medizinischen Einrichtungen, die angegriffen wurden, standen auf einer Liste der Uno als Nichtangriffsziele.
Viele der medizinischen Einrichtungen, die angegriffen wurden, standen zudem auf einer Liste der Uno als Nichtangriffsziele. Diese Liste war den russischen, türkischen und US-geführten Koalitionstruppen zugesandt worden, um zu zeigen, welche Ziele nicht angegriffen werden dürfen.
Vertreibung und katastrophale Lebensbedingungen
Die jüngsten Angriffe auf Idlib zwangen zwischen Dezember 2019 und März 2020 nahezu eine Million Menschen – mehr als 80 Prozent davon Frauen und Kinder – in Gebiete in der Nähe der türkischen Grenze zu fliehen.
Eine Mutter von drei Kindern, deren Familie in den vergangenen acht Monaten zweimal vertrieben worden war, sagte Amnesty International: «Mein Tochter, die in die erste Klasse geht, hat ständig Angst …. Sie fragte mich [nachdem wir vertrieben worden waren]: ‘Warum tötet Gott uns nicht?’ … Wir sind nirgendwo sicher.»
Eine Ausbreitung der Corona-Pandemie in den Lagern könnte fatale Folgen haben.
Diese Menschen, die sich auf einer immer kleiner werdenden Fläche zusammendrängen, leben unter unmenschlichen Bedingungen ohne ausreichende humanitäre Unterstützung. Hilfe ist dringend notwendig und muss über einen längeren Zeitraum garantiert werden. Die globale Coronakrise erschwert die humanitäre Hilfe für die Menschen in der Region zusätzlich. Eine Ausbreitung der Pandemie könnte fatale Folgen haben. In den überfüllten Vertriebenenlagern sind Schutzmassnahmen kaum möglich und das bereits schwer gebeutelte Gesundheitswesen ist in keiner Weise für eine Pandemie ausgerüstet.
Lebenswichtige humanitäre Hilfe in Gefahr
Im Juli 2014 verabschiedete der Uno-Sicherheitsrat einstimmig eine Resolution, die humanitäre Unterstützung im Nordwesten Syriens und in anderen Gebieten ermöglicht, die von bewaffneten Oppositionsgruppen kontrolliert werden. Dafür ist keine Zustimmung der syrischen Regierung erforderlich. Diese Resolution ist seit 2014 wiederholt verlängert worden, wenn auch in den vergangenen Jahren unter Schwierigkeiten und im Januar 2020 mit Einschränkungen. Nun soll die Resolution am 10. Juli 2020 auslaufen.
Syrien und seine Verbündeten wollen diese Unterstützungsregelung beenden und Hilfslieferungen stattdessen über Damaskus senden, was es der Uno und Partnerorganisationen erschweren würde, Hilfe zeitnah und nachhaltig zu verteilen. Die syrische Regierung hat immer wieder versucht, die Hilfslieferungen durch bürokratische Hindernisse einzuschränken. Sie hat zudem Mitarbeitende von Hilfsorganisationen auf «schwarze Listen» gesetzt und verfolgt, die mit Oppositionellen in den von diesen gehaltenen Gebieten in Verbindung gebracht wurden. Bewaffnete Gruppen, wie Hay’at Tahrir al-Sham, haben ebenfalls humanitäre Organisationen daran gehindert, ihrer Arbeit effizient nachzugehen.
«Uno-Vertreter bezeichnen Idlib bereits als humanitäre ‘Horror-Geschichte‘ – diese wird sich noch verschlimmern, wenn der Sicherheitsrat nicht über die politischen Interessen der Konfliktparteien hinausblickt und diese lebenswichtige humanitäre Unterstützungsmöglichkeit beibehält,» sagt Heba Morayef.