Injustice, torture and death in detention in north-east Syria Injustice, torture and death in detention in north-east Syria
© Amnesty International

Syrien: Bericht zu Todesfällen und Folter in Haft Grausame Bedingungen in syrischen Gefängnissen

Medienmitteilung 15. April 2024, London/Bern – Medienkontakt
Zahlreiche Menschen, die nach der Niederlage der bewaffneten Gruppe «Islamischer Staat» (IS) im Nordosten Syriens inhaftiert wurden, sind systematischen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Viele von ihnen sterben unter grausamen Bedingungen. Dies stellt Amnesty International in einem neuen Bericht fest.

Der englischsprachige Bericht «Aftermath: Injustice, Torture and Death in Detention in North-East Syria» dokumentiert umfassende Menschenrechtsverletzungen an mehr als 56’000 Gefangenen durch die Autonomiebehörden Syriens. Auch mehr als fünf Jahre nach der territorialen Niederlage des Islamischen Staats werden Schätzungen noch immer 11’500 Männer, 14’500 Frauen und 30’000 Kinder in mindestens 27 Hafteinrichtungen und in den beiden Internierungslagern Al-Hol und Roj festgehalten. Die Autonomiebehörden sind der wichtigste Partner der US-Regierung und anderer Mitglieder der Koalition, die den Islamischen Staat im Nordosten Syriens besiegt hat. Die USA sind in die meisten Bereiche des Strafvollzugsystems involviert.

Viele der Gefangenen werden unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und sind Folter in Form von schweren Schlägen, dem erzwungenen Verharren in schmerzhaften Positionen, Elektroschocks und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Tausende weitere sind «verschwunden». Frauen wurden rechtswidrig von ihren Kindern getrennt.

«Die in den Internierungslagern und Hafteinrichtungen festgehaltenen Kinder, Frauen und Männer leiden unter entsetzlicher Grausamkeit und Gewalt. Die Autonomiebehörden haben sich der Kriegsverbrechen der Folter und der grausamen Behandlung schuldig gemacht und vermutlich auch das Kriegsverbrechen Mord begangen», sagt Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. «Die Autonomiebehörden, die Mitglieder der von den USA angeführten Koalition und die Vereinten Nationen müssen handeln, um gegen diese Verstösse vorzugehen und der Gewalt ein Ende zu setzen.»

Die Rolle der von den USA angeführten Koalition

Zu den Inhaftierten gehören Syrer*innen, Iraker*innen und ausländische Staatsangehörige aus schätzungsweise 74 anderen Ländern. Unter den Inhaftierten befinden sich auch Opfer des Islamischen Staats sowie hunderte Jesid*innen, die teils vom IS verschleppt wurden. Viele inhaftierte Frauen und Mädchen wurden mit IS-Mitgliedern zwangsverheiratet, und viele inhaftierte Jungen und junge Männer als Kinder vom IS zwangsrekrutiert.

Die Mehrheit der inhaftierten Personen gelangte Anfang 2019, während der letzten Kämpfe mit dem IS, in den Gewahrsam der Autonomiebehörden. Diese Menschen werden jetzt in zwei verschiedenen Einrichtungen gefangen gehalten – in geschlossenen, hier als «Hafteinrichtungen» bezeichneten Gebäuden, sowie in geschlossenen Lagern, sogenannten «Internierungslagern».

Betrieben werden die Hafteinrichtungen von den Autonomiebehörden der Region Nord- und Ostsyrien, bestehend aus den Demokratischen Kräften Syriens (SDF), anderen, mit den SDF verbundenen Sicherheitskräften und dem zivilen Flügel der SDF, der Demokratischen Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien (DAANES).

2014 gründete das US-Verteidigungsministerium eine von den USA angeführte Koalition, um den IS «zu schwächen und zu vernichten». Die Koalition hat mit finanzieller Unterstützung des US-Kongresses bestehende Hafteinrichtungen renoviert und neue gebaut und spielt eine wesentliche Rolle bei den laufenden gemeinsamen Operationen, in deren Folge Personen in den Gewahrsam der SDF überführt werden und Gefangene einfacher in Drittländer wie den Irak zurückgeführt werden können.

«Die US-Regierung hat dazu beigetragen, ein System aus weitgehend rechtswidrigen Haftzentren zu schaffen und auszuweiten, das von systematischen unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen, rechtswidrigen Tötungen und der weit verbreiteten Anwendung von Folter geprägt ist. Die USA haben zwar Unterstützung geleistet, um die Haftbedingungen zu verbessern oder Menschenrechtsverstösse zu mildern, doch sind diese Interventionen weit hinter dem zurückgeblieben, was nach dem Völkerrecht erforderlich ist», sagt Agnès Callamard.

«Die Koalition und die internationale Gemeinschaft haben die Opfer von IS-Verbrechen und ihre Familien im Stich gelassen: Sie warten noch immer auf wirksame Untersuchungen und Gerechtigkeit. Die Koalition und die Vereinten Nationen müssen gemeinsam eine umfassende Strategie entwickeln, um dieses beschämende System in Einklang mit dem Völkerrecht zu bringen und juristische Lösungen zu finden, um die Schuldigen für die vom Islamischen Staat begangenen Gräueltaten zur Verantwortung zu ziehen. Ein Überprüfungsprozess sollte bestimmen, welche der inhaftierten Personen sofort freizulassen sind. Besonderes Augenmerk sollte dabei den Opfern von IS-Verbrechen und gefährdeten Gruppen gelten. Unterdessen muss dafür gesorgt werden, dass die Menschenrechtsverstösse sofort gestoppt und Berichte über Folter und Todesfälle unabhängig untersucht werden.»

Folter und Todesfälle in Sicherheitseinrichtungen

Amnesty International stellt fest, dass in Hafteinrichtungen der SDF und damit verbundener Sicherheitskräfte systematisch Folter zum Einsatz kommt. Amnesty International hat acht Männer befragt, die zwischen 2019 und 2023 in der von der SDF geführten Hafteinrichtung Sini am Rande der Stadt Al-Shaddadi inhaftiert waren. Nach ihren Aussagen wurden Häftlinge regelmässig gefoltert oder anderweitig misshandelt, unter anderem durch Schläge, das Auspeitschen mit Stromkabeln, das Aufhängen an den Handgelenken in schmerzhaften Positionen, durch sexualisierte Gewalt und durch Elektroschocks. Die Gefangenen lebten in überfüllten Zellen, in denen auch aufgrund mangelnder Belüftung extreme Temperaturen herrschten. Die unmenschlichen Bedingungen und die fehlende medizinischer Versorgung führten zum Ausbruch von Krankheiten und zum Tod von Hunderten von Menschen. Ein Häftling berichtete, dass 17 Menschen in seiner Zelle starben, als die Behörden an einem Tag im Jahr 2020 den Ventilator abschalteten

Auch in Panorama, der zweiten wichtigen Einrichtung der SDF in der Stadt Hasakah wurden Männer und Jungen Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Häftlingen in Panorama wurde der Zugang zu angemessener Nahrung und medizinischer Versorgung verweigert, was zu Krankheiten und Seuchen führte. So kam es zu einem schweren Ausbruch von Tuberkulose, der seit Jahren andauert. Eine unbehandelte Tuberkulose führt in 50 Prozent der Fälle zum Tode. Im August 2023 bestätigten Vertreter*innen der SDF gegenüber Amnesty International, dass ein extrem hoher Prozentsatz der Männer und Jungen infiziert sei und dass jede Woche ein oder zwei Insassen an Tuberkulose sterben würden. Erkrankte Personen wurden jedoch nicht behandelt und kranke Gefangene nicht isoliert.

Schätzungen zufolge befinden sich 1000 syrische und ausländische Jungen und als Minderjährige inhaftierte junge Männer in den Hafteinrichtungen, wobei die Zahl immer noch zunimmt. Nach wie vor werden syrische Jungen wegen ihrer mutmasslichen Verbindungen zum IS festgenommen, manchmal auch mit Unterstützung der von den USA angeführten Koalition. Sie sind den gleichen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wie die Erwachsenen, in manchen Fällen auch Folter und anderen Misshandlungen. Nach Schätzungen wird nur jeder Zehnte von ihnen beschuldigt, ein Verbrechen begangen zu haben.

Verbreitung geschlechtsspezifischer Gewalt

Im Dezember 2023 hielten die Autonomiebehörden mehr als 46’600 Menschen, in der Mehrzahl (etwa 94 Prozent) Frauen und Kinder, in den Internierungslagern Al-Hol und Roj fest. Niemand in diesen Lagern war angeklagt worden oder hatte die Möglichkeit erhalten, die Inhaftierung vor einer unabhängigen Justizbehörde anzufechten. In beiden Lagern leiden die Menschen unter unhygienischen, unmenschlichen und lebensbedrohlichen Bedingungen sowie mangelndem Zugang zu Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung.

Im Lager Al-Hol herrscht ein hohes Mass an geschlechtsspezifischer Gewalt. Dazu gehören Angriffe auf Frauen durch IS-Mitglieder wegen vermeintlicher «moralischer» Verstösse und sexuelle Ausbeutung durch Sicherheitskräfte und Privatpersonen. Es gibt vor Ort keine angemessenen Schutz- oder Unterstützungsmechanismen für gefährdete Frauen.

In den Berichten von 27 Frauen und Kindern fanden sich Hinweise, dass sie Opfer von Menschenhandel, Zwangsverheiratung oder gar Kinderehen waren. Trotz des weitverbreiteten Menschenhandels durch den IS gibt es keine Mechanismen, um davon Betroffene ausfindig zu machen und ihnen Schutz und Unterstützung zu bieten.

Unfaire Gerichtsverfahren

Nach Angaben der Autonomiebehörden haben spezialisierte Gerichte in den letzten zehn Jahren Verfahren gegen mehr als 9600 Personen geführt, die Verbindungen zum IS haben sollen, darunter auch Frauen und Kinder. Bei nahezu allen Angeklagten handelt es sich um syrische, bei einigen wenigen auch um irakische Staatsangehörige.

Immer wieder kam es bei den Verfahren zu Menschenrechtsverletzungen. So wurden viele «Geständnisse» durch Folter und andere Misshandlungen erzwungen. Den Angeklagten wurde der Zugang zu Rechtsbeiständen in allen Prozessphasen verweigert. Minderjährige waren mit den gleichen unfairen Strafverfahren konfrontiert, ohne Kontakt zu ihren Eltern oder einem Erziehungsberechtigten zu haben.

Oft reichte schon die Anschuldigung aus, eine Person könne mit dem IS in Verbindung stehen, um diese viele Jahre lang willkürlich in Haft zu bringen. Amnesty International hat 18 Berichte festgehalten, in denen die Befragten angaben, fälschlich beschuldigt worden zu sein, Verbindungen zum IS zu unterhalten. Mehrere Frauen wurden im Zusammenhang mit den Taten ihrer Ehemänner wegen «terroristischer» Verbrechen verurteilt, unter anderem deshalb, weil sie die Behörden «nicht informiert» hätten.

Keine der im Nordosten Syriens inhaftierten Personen wurde wegen Verbrechen nach dem Völkerrecht, wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord strafrechtlich belangt. Die meisten Anklagen wurden vielmehr wegen weit gefasster «Terrorismus»-Delikte erhoben. Viele schwere Verbrechen, die vom IS begangen wurden, darunter sexuelle Versklavung, wurden überhaupt nicht untersucht.

Mehreren Quellen zufolge haben die SDF, die irakischen Behörden und die von den USA angeführte Koalition im Januar 2022 eine neue Vereinbarung getroffen, wonach jeden Monat 50 irakische Männer aus Haftanstalten im Nordosten Syriens in den Irak überstellt werden sollen. Seitdem wurden Hunderte von irakischen Männern im Rahmen dieser Vereinbarung mit Unterstützung der US-geführten Koalition überstellt, wobei mehreren nun im Irak die Hinrichtung droht.

Amnesty International kommt zu dem Schluss, dass die autonomen Behörden und die US-Regierung bei diesen Überstellungen wahrscheinlich gegen das Non-Refoulement-Prinzip sowie gegen das Recht auf Leben und auf Freiheit von Folter verstossen haben.

Zur Methodik

Im Rahmen von drei Besuchen im Nordosten Syriens zwischen September 2022 und August 2023 und auf telefonischem Wege hat Amnesty International insgesamt 126 Personen befragt, denen eine Verbindung zum Islamischen Staat vorgeworfen wird und die sich aktuell in Hafteinrichtungen oder Lagern befinden oder in diesen befunden haben. Amnesty International interviewte zudem 39 Vertreter*innen der Autonomiebehörden, 53 Mitarbeiter*innen von nationalen und internationalen NGOs sowie 25 Vertreter*innen der Vereinten Nationen. Amnesty International hat sich in Briefings und auf schriftlichem Wege ausführlich mit den Autonomiebehörden und der US-Regierung über die Ergebnisse des Berichts ausgetauscht. Beide haben schriftlich geantwortet.

Die Autonomiebehörden wiesen auf die schwierigen Bedingungen hin, mit denen sie konfrontiert seien und zu denen auch andauernde bewaffnete Konflikte gehörten. Sie kritisierten die internationale Gemeinschaft und globale Partner*innen, die «ihren rechtlichen und moralischen Verpflichtungen» nicht nachgekommen seien, und monierten, sie seien bei der Bewältigung der Folgen des Kampfes gegen den IS allein gelassen worden.

Das US-Aussenministerium wies darauf hin, dass die Gruppen und Personen innerhalb der SDF, mit denen die USA zusammenarbeite, «angemessen überprüft» worden seien und dass die Akteure in Syrien, auch die SDF, eindringlich dazu aufgefordert worden seien, die Menschenrechte zu wahren. Dem US-Aussenministerium zufolge besteht die einzige Lösung in der «Rückführung und Abschiebung vertriebener Personen und Häftlinge in ihre Herkunftsländer», damit die Schuldigen «im Rahmen angemessener, die Rechte achtender Gerichtsverfahren für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden können».