Im August 2014 startete der Islamische Staat einen bewaffneten Angriff auf die jesidische Gemeinschaft im Irak, der mittlerweile von den Vereinten Nationen als Völkermord anerkannt wurde. Mehr als 3000 jesidische Erwachsene und Kinder wurden rechtswidrig getötet und mindestens 6800 weitere, in der Mehrzahl Frauen und Kinder, vom Islamischen Staat entführt. Der Islamische Staat setzte die Frauen und Mädchen sexualisierter und anderen Formen der Versklavung aus und zwang Jungen, als Kindersoldaten zu kämpfen.
Seit der territorialen Niederlage des Islamischen Staats im März 2019 werden nach Angaben des Büros für entführte Jesid*innen in Dohuk noch immer schätzungsweise 2600 Jesid*innen vermisst. Ein grosser Teil von ihnen soll sich nach der Entführung und dem Abtransport durch den Islamischen Staat im Nordosten Syriens befinden. Amnesty International hat Organisationen und Aktivist*innen, die sich für die Rechte von Jesid*innen einsetzen, befragt. Sie gehen davon aus, dass viele Jesid*innen in dem ausgedehnten Gefängnissystem festgehalten werden, das im Nordosten Syriens für Menschen mit mutmasslichen Verbindungen zum Islamischen Staat geschaffen wurde. Dieses System wird von den Autonomiebehörden der Region Nord- und Ostsyrien mit Unterstützung der zur Bekämpfung des Islamischen Staates geschaffenen Militärkoalition unter der Führung der USA betrieben.
«Der jesidischen Gemeinschaft wurde vom Islamischen Staat unvorstellbares Leid zugefügt. Auch zehn Jahre nach Beginn des Angriffs des Islamischen Staates auf die Jesid*innen dauert dieses Leid noch an», sagt Lauren Aarons, Beraterin für Gender, Konflikte und Internationale Gerechtigkeit bei Amnesty International. «Viele Jesid*innen, die nach dem Zusammenbruch des Islamischen Staates irrtümlicherweise festgenommen wurden, sind im Nordosten Syriens unter schlimmen und lebensbedrohlichen Bedingungen auf unbestimmte Zeit inhaftiert. Diese Jesid*innen müssen jetzt identifiziert und freigelassen werden und die kontinuierliche Unterstützung erhalten, die sie benötigen.»
Amnesty International befragte vier jesidische Frauen und Kinder, die vor kurzem im Haftsystem identifiziert worden waren, fünf Familienmitglieder und 13 Mitglieder jesidischer Organisation und Aktivist*innen. Amnesty International sprach auch mit drei Mitgliedern der Autonomiebehörden und mit 12 Mitarbeiter*innen der Vereinten Nationen und humanitärer NGOs. Die Interviews wurden zwischen September 2022 und Juli 2024 im Nordosten Syriens und im Irak sowie aus der Ferne geführt.
Katastrophale Haftbedingungen und sexualisierte Gewalt
Mehrere Jesid*innen, die sich als solche zu erkennen gaben, wurden freigelassen und in den Irak zurückgeführt. Doch viele haben zu viel Angst, sich zu melden, weil sie befürchten, dass sie von mit dem IS verbundenen Personen in den Hafteinrichtungen und im Lager Al-Hol bestraft oder getötet werden, wenn sie versuchen, zu ihren Familien zurückzukehren. Einigen wurde vom Islamischen Staat erzählt, dass ihre Familien ihnen etwas antun würden oder dass alle Angehörigen der jesidischen Gemeinschaft getötet wurden. Viele von ihnen war bei ihrer Entführung noch zu jung, um sich daran erinnern zu können, dass sie Jesid*innen sind.
Sana* war 16 Jahre alt, als sie vom IS gefangen genommen wurde. Sie war Jahre später von den Autonomiebehörden identifiziert worden und kam frei. Sie erzählte Amnesty International, dass sie ihre jesidische Identität aus Angst jahrelang verheimlichte. Einer ihrer Entführer habe ihr vor der Niederlage des IS ein Video zeigte, das seiner Meinung nach einen sogenannten Ehren-Mord an einem jesidischen Mädchen zeigte, das aus der Gefangenschaft zurückkehrte. Er habe ihr gesagt, dass ihre Gemeinschaft sie auf keinen Fall zurückhaben wolle. Aus Angst, dass sie bei einer Rückkehr in den Irak ebenfalls getötet werden würde, versteckte Sana sich im Lager Al-Hol.
Hunderte jesidische Frauen und Kinder sollen sich nach wie vor im Gefangenenlager Al-Hol befinden. Einige unter ihnen nach wie vor der Gefangenschaft, Versklavung oder anderem Missbrauch durch Mitglieder des Islamischen Staates ausgesetzt. Viele der in Al-Hol verbliebenen jesidischen Frauen und Mädchen haben infolge der sexualisierten Gewalt durch Angehörige des Islamischen Staats Kinder bekommen. Einige dieser Frauen fürchten aus gutem Grund, sie könnten gewaltsam von ihren Kindern getrennt werden, sobald sie identifiziert und in ihre Heimat zurückgebracht werden. Dies wäre ein Verstoss gegen internationale Menschenrechtsnormen. 2020 hat Amnesty International dokumentiert, dass jesidische Frauen nach ihrer Identifizierung in Al-Hol systematisch von ihren Kindern getrennt wurden.
Amani*, eine jesidische Frau, die aus Al Hol in den Irak zurückgekehrt ist, berichtete Amnesty International, dass sie gezwungen wurde, sich von ihren Kindern zu trennen, die sich jetzt im Nordosten Syriens befinden: «Alle sagen, sie seien IS-Kinder... Ich habe einige ihrer Kleidungsstücke, und ich nehme sie heraus und rieche an ihnen, um mich ihnen nahe zu fühlen. Natürlich möchte ich bei ihnen sein. Sie sind ein Teil meines Herzens.»
Eine unbekannte Zahl jesidischer Jungen und junger jesidischer Männer, die als Minderjährige entführt wurden, sollen sich ebenfalls in einem Netz aus mindestens 27 Hafteinrichtungen befinden. Amnesty International hat in den Hafteinrichtungen im Nordosten Syriens systematische Folter oder andere Misshandlungen dokumentiert und herausgefunden, dass in mindestens zwei Einrichtungen Hunderte von Männern und Jungen infolge von Folter und unmenschlichen Bedingungen gestorben sind.
Die katastrophalen Bedingungen im Lager Al-Hol erfüllen die Kriterien einer grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Alle in Al-Hol inhaftierten Personen werden von den Autonomiebehörden auf unbestimmte Zeit ohne Anklage oder Verfahren festgehalten, zum Grossteil mehr als fünf Jahre. Dies ist ein Verstoss gegen das Völkerrecht. Die Autonomiebehörden teilten Amnesty International mit, sie hätten Al-Hol nicht vollständig unter ihrer Kontrolle, und der Islamische Staat habe sich in dem Lager neu formiert.
Mehr internationale Unterstützung gefordert
Einige jesidische Organisationen und Aktivist*innen arbeiten mit den autonomen Behörden zusammen, um die im Nordosten Syriens inhaftierten Jesid*innen zu identifizieren – doch ein institutionalisierter Rahmen fehlt.
«Jesidische Aktivist*innen und Familienangehörige sollten bei der Suche nach vermissten Jesid*innen nicht alleingelassen werden. Die internationale Unterstützung für alle menschenrechtskonformen Bemühungen zur Identifizierung und Rückführung vermisster Jesid*innen, einschliesslich derjenigen, die in Hafteinrichtungen und im Lager Al-Hol im Nordosten Syriens zurückgelassen und vergessen wurden, muss dringend verstärkt werden», sagt Nicolette Waldman, Krisenberaterin bei Amnesty International. «Im Zentrum dieser Bemühungen müssen die Menschenrechte und die eigene Handlungskompetenz der Überlebenden stehen. Die irakischen Behörden sollten mehr Hilfe und Unterstützung für die Zurückkehrenden bereitstellen, darunter auch Zugang zur Entschädigung unter dem Gesetz für jesidische Überlebende.»
Darüber hinaus müssen die Autonomiebehörden dafür sorgen, dass Menschenrechtsorganisationen und Organisationen, die sich für die Rechte von Jesid*innen einsetzen, Zugang zu Hafteinrichtungen und zum Lager Al-Hol erhalten. Zudem sollten die irakischen Behörden Organisationen Zugang zum Lager Jeddah-1 gewähren, über das Iraker*innen aus Al-Hol zunächst in den Irak zurückgeführt werden, und Massnahmen einleiten, um Jesid*innen unter den zurückkehrenden Iraker*innen zu identifizieren.
Andere Staaten, insbesondere die USA und Grossbritannien, sollten alle Initiativen zur Identifizierung vermisster Jesid*innen, die die Rechte und die Handlungskompetenz der Überlebenden wahren, unterstützen. Ausserdem sollten Uno-Organisationen wie UNHCR, UNICEF, UN Women und die Unabhängige Institution für verschwundene Personen in der Arabischen Republik Syrien ihre Bemühungen um vermisste Jesid*innen erheblich verstärken.
HINWEIS: * Namen geändert.