Die schrecklichen Bilder, die uns von der syrischen Küste erreichen, sind eine düstere Erinnerung an die Grausamkeiten, die Syrer*innen in der Vergangenheit erlitten haben. Sie bergen die Gefahr, religiöse Spannungen zu schüren und weitere tödliche Gewalt zu entfachen.
«Die Behörden müssen jetzt rasch handeln, um sicherzustellen, dass die Zivilbevölkerung in laufenden oder künftigen Kämpfen geschützt wird. Sie müssen weitere rechtswidrige Tötungen und andere Menschenrechtsverletzungen verhindern», sagt Heba Morayef, Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika. «Wenn jetzt nicht entschlossen gehandelt wird – das heisst unabhängige, unparteiische und wirksame Ermittlungen durchzuführen und sicherzustellen, dass die Schuldigen vor Gericht gestellt werden – wird das diejenigen, die glauben, ungestraft töten zu können, weiter ermutigen.»
«Die Behörden müssen dringend Massnahmen ergreifen, um die Gleichberechtigung aller Syrer*innen zu gewährleisten.» Heba Morayef, Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika
«Zusätzlich zu ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht ist die syrische Regierung auch verpflichtet, die Menschenrechte aller in Syrien lebenden Menschen zu wahren», so Heba Morayef weiter. «Die Behörden müssen dringend Massnahmen ergreifen, um die Gleichberechtigung aller Syrer*innen zu gewährleisten. So müssen sie unter anderem sicherstellen, dass keine Person oder Gruppe wegen ihrer vermeintlichen politischen Zugehörigkeit ins Visier genommen wird.»
Die Regierung hat zwar einen unabhängigen Untersuchungsausschuss angekündigt und zugesagt, die für die Verbrechen verantwortlichen Personen der Justiz zu überstellen, doch ist es entscheidend, dass dieser Prozess transparent ist und im Einklang mit internationalen Standards durchgeführt wird. Der Untersuchungsausschuss hat den Auftrag, der Regierung innerhalb von 30 Tagen einen Bericht vorzulegen, doch diese Ergebnisse müssen auch veröffentlicht werden. Ohne Transparenz haben die Opfer und die breite Öffentlichkeit keinen Grund, darauf zu vertrauen, dass die Ermittlungen glaubwürdig und sorgfältig durchgeführt wurden.
Zusätzlich zu den von der Regierung geleiteten Ermittlungen sollten die Behörden unabhängigen nationalen und internationalen Ermittlungsteams Zugang zu Syrien gewähren, damit sie eigene Untersuchungen durchführen können. Auch in den Küstengebieten.
«Das Versprechen von Präsident Ahmad al-Sharaa, die Täter ‚mit aller Entschlossenheit und ohne Nachsicht‘ zur Rechenschaft zu ziehen, bleibt leer, wenn die Justiz die Opfer nicht einbindet, nicht auf die Menschenrechte achtet und parteiisch ist – unabhängig davon, wer verantwortlich ist», so Heba Morayef. «Diese schrecklichen Ereignisse unterstreichen einmal mehr die Dringlichkeit umfassender Massnahmen seitens der syrischen Behörden, um Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für alle Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen in Syrien zu gewährleisten. Letzten Endes kann so sowohl das den Betroffenen zugefügte Leid gelindert als auch sichergestellt werden, dass ‚nie wieder‘ wirklich ‚nie wieder‘ bedeutet.»
Hintergrund
Die Familie Assad, die Syrien jahrzehntelang regierte, gehört der alawitischen Minderheit an. Im November 2024 begannen Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) und verbündete bewaffnete Oppositionsgruppen eine Militäroffensive, die zur Einnahme des Gouvernements Aleppo führte. Am 8. Dezember nahmen die bewaffneten Oppositionsgruppen Damaskus ein und der damalige Präsident Bashar al Assad floh aus dem Land.
Am 29. Januar 2025 ernannte das Syrische Militärische Operationskommando den ehemaligen HTS-Anführer Ahmad al-Sharaa zum Übergangspräsidenten. Am selben Tag kündigten die Übergangsbehörden an, dass alle militärischen Gruppierungen aufgelöst und in die staatlichen Institutionen integriert werden würden.
Am 6. März 2025 griffen bewaffnete Assad-treue Männer die staatlichen syrischen Sicherheitskräfte in Latakia an. Regierungsnahe Einheiten und Milizen gingen zum Gegenangriff über, woraufhin es – lokalen Quellen zufolge – zu einer Reihe von Angriffen in mehreren Gouvernements kam. Am 10. März berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, dass mehr als 973 Zivilist*innen getötet wurden, die meisten von ihnen Alawit*innen.
Das humanitäre Völkerrecht gilt für alle am Konflikt in Syrien beteiligten Kriegsparteien. Auch die syrische Regierung, die jetzt von Ahmad al-Sharaa geführt wird, ist den internationalen Menschenrechtsnormen verpflichtet. Ausserdem muss sie die Menschenrechte aller in Syrien lebenden Menschen wahren.