«Dies ist ein entscheidender Moment für Tunesien,» sagte Claudio Cordone, Direktor der Regionalprogramme bei Amnesty International. «Diejenigen, die jetzt die Macht im Staate ausüben, haben die beispiellose Gelegenheit, grundsätzliche und dauerhafte Reformen umzusetzen und mit dem Erbe Ben Alis zu brechen. Die tunesische Bevölkerung verdient einen echten Wandel – und nicht nur kosmetische Korrekturen.»
Fortgesetzte Polizeigewalt
Tunesien steht weiter unter dem Eindruck von Unruhen und politischer Unsicherheit. Die neue Übergangsregierung, die nach der Flucht des früheren Präsidenten und seiner Familie gebildet wurde, steht unter grossem Druck.
«Zuerst muss die neue Regierung umgehend die Sicherheitskräfte zügeln und dem Gesetz unterordnen. Sie haben jahrelang die Menschen im Land drangsaliert und unterdrückt,» so Claudio Cordone. «Die Menschenrechte dürfen nicht nur ein optionaler Teil des neuen Regierungsprogramms sein. Sie müssen vielmehr die Grundlage für die Arbeit der Regierung darstellen.»
Die «Agenda for Change» von Amnesty
Amnesty International begrüsst die Zusicherung der neuen Regierung, alle politischen Gefangenen freizulassen. Gleichwohl fordert Amnesty mit der «Agenda for change» weitere dringende und weitereichende Schritte von den tunesischen Behörden:
- Die Sicherheitskräfte müssen grundlegend überprüft werden. Ab sofort darf kein Mitglied des Sicherheitsapparats über dem Gesetz stehen. Die weiterhin praktizierte Verwendung von scharfer Munition zur Auflösung von Demonstrationen zeigt, wie dringend klare Richtlinien für die Ausübung von Gewalt benötigt werden.
- Die Behörden müssen Folter öffentlich verurteilen und sie abschaffen. Diejenigen, die die Anwendung von Folter befehlen, durchführen oder verschleiern, müssen zur Verantwortung gezogen und die Opfer entschädigt werden.
- Die TunesierInnen müssen darauf vertrauen können, dass sie durch das Justizsystem fair behandelt werden. Die Unabhängigkeit des Richteramtes muss gewährleistet sein.
- Die Menschen in Tunesien müssen das Recht haben, ihre Meinung frei zu äussern. Die Behörden müssen all jene Gesetze abschaffen, welche das Recht auf freie Meinungsäusserung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit einschränken. Sie müssen aufhören, ehemalige politische Gefangene zu drangsalieren und die gegen sie verhängten Ausreiseverbote aufheben.
- Die Wurzeln der aktuellen Proteste müssen dringend angegangen werden, indem der Diskriminierung und dem Machtmissbrauch ein Riegel vorgeschoben wird. Die ungleiche Behandlung beim Zugang zu grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen muss beendet und die Mindeststandards im Rahmen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte für die gesamte Bevölkerung eingehalten werden.
Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen
Damit die Reformen nicht nur leere Worte bleiben, müssen die Missstände der Regierungszeit von Ben Ali gründlich untersucht werden. Amnesty fordert die Behörden daher auf, die Menschenrechtsverletzungen der letzten beiden Jahrzehnte vollständig aufzudecken, einschliesslich der Ereignisse der letzten Wochen.
«Die TunesierInnen erwarten eine gründliche Untersuchung – und keine zahnlosen Kommissionen, die keine Möglichkeit haben, die Amtsträger zu Aussagen und Geständnissen zu bewegen,» sagte Claudio Cordone. «Die Bevölkerung muss die Wahrheit erfahren über die Unterdrückung und den Machtmissbrauch der vergangenen Jahre. Und diejenigen, die zu den Opfern zählen, müssen Gerechtigkeit erfahren und eine Wiedergutmachung erhalten».