Tunesien am Scheideweg: ein Schritt vorwärts - zwei zurück?

Pressemitteilung vom 23. Oktober 2012. London/Zürich. Medienkontakt
Ein Jahr nach den ersten demokratischen Wahlen zweifelt Amnesty International am Reformwillen Tunesiens. Gerade mit Blick auf die Menschenrechte sei eher ein Rückschritt zu verzeichnen.

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In einem neuen Bericht zur aktuellen Lage in Tunesien zeigt sich Amnesty International besorgt über die Wahrung und Durchsetzung der Menschenrechte. «Tunesien war die Wiege der Revolution in Nordafrika und dem Mittleren Osten – von hier aus hat der Wunsch nach Reformen die ganze Region erfasst» (pdf, englisch, 43 Seiten), sagt Nordafrika-Experte Reto Rufer von Amnesty International Schweiz. «Wir anerkennen die Bemühungen der tunesischen Regierung um die Aufarbeitung der Vergangenheit, diese Anstrengungen greifen allerdings zu kurz, gerade, was notwendige Reformen und die Durchsetzung von Menschenrechten anbelangt.»

Dabei hatte die Übergangsregierung in den ersten Monaten nach der Vertreibung von Ex-Diktator Ben Ali zunächst wichtige Reformen angestossen und erste Fortschritte erzielt: so wurden wesentliche Menschenrechtsabkommen ratifiziert, zahlreiche politische Gefangene entlassen, Gesetze zur Pressefreiheit verabschiedet und die Einschränkungen zur Gründung von Interessenverbänden aufgehoben. Laut Rufer habe es die neue Regierung seitdem allerdings versäumt, diese Reformen nachhaltig zu unterstützen. Das Gegenteil sei der Fall: in den vergangenen Monaten sei die Meinungsfreiheit von Journalistinnen, Künstlern, Regierungskritikern, Schriftstellerinnen und Bloggern unter der fadenscheinigen Begründung eingeschränkt worden, sie würden die öffentliche Sicherheit und Moral gefährden.

Der seit Januar 2011 geltende Ausnahmezustand wurde mehrmals erneuert, gerade erst wieder bis Ende Oktober 2012. Demonstrantinnen, die ihren Unmut über die schleppenden Reformbemühungen offen zeigen, wird laut Amnesty International mit unnötiger und brutaler Gewalt begegnet. Die Menschenrechtsorganisation hat im vergangenen Jahr zahlreiche Berichte über Folterungen und Misshandlungen in Tunesien erhalten werden. Vor allem Demonstrantinnen und  Demonstranten berichten, sie seien bei Strassenprotesten oder in Gefängnissen geschlagen worden. «Tunesien ist am Scheideweg: Die Regierung muss diese historische Chance nutzen, die schmerzhafte Vergangenheit umfassend aufzuarbeiten und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit umzusetzen», sagt Amnesty-Experte Reto Rufer.