AMNESTY: Sie haben sich 2015 bei einer Polizeikontrolle geweigert, den Ausweis zu zeigen. Warum?
Mohamed Wa Baile: Ich bin überzeugt, dass ich nur kontrolliert wurde, weil ich Schwarz bin. Meine Schwarzen Freunde und ich, wir erleben das täglich. Wenn ich meine Geschichte erzähle, dann berichten die anderen von ähnlichen Vorfällen. Kürzlich hatte ich eine Sitzung in Freiburg. Ein Bekannter aus Genf, er ist Anwalt und immer sehr schick gekleidet, kam zu spät und sagte: «Es tut mir leid, ich wurde von der Polizei angehalten.» Meine weissen Freunde erleben das nicht. Bei der Kontrolle in Zürich 2015 sagten die Polizisten zuerst, sie hätten mich angehalten, weil ich den Blick von ihnen abgewendet hätte. Und die anderen Hunderte Pendler? Haben die alle hingeschaut? Wieso wurde nur ich kontrolliert? Ein halbes Jahr später, bei der Verhandlung, sagten die Polizisten, ich hätte einen Bogen um sie gemacht, und das sei verdächtig gewesen. Sie haben also eine andere Geschichte erzählt. Und wie soll ich inmitten des Pendlerstroms einen Bogen gemacht haben?
Was ist problematisch daran, den Ausweis zu zeigen? Im Zug muss ja zum Beispiel auch das Billett vorgewiesen werden.
Ich zeige im Zug auch mein Billett, das ist kein Problem. Alle müssen ihr Billett zeigen, die Kondukteure kontrollieren alle. Es geht mir um Dinge, die weisse Personen nicht erleben: Im Warenhaus werde ich verfolgt, weil jemand denkt, ich hätte gestohlen. Wenn ich Heuschnupfen habe und mit roten Augen zum Bahnhof fahre, dann packt mich die Polizei und sagt: «Raus aus dem Bahnhof.» Dabei will ich nur in der Apotheke Medikamente kaufen. So wird mir täglich das Gefühl gegeben, dass ich kriminell sei oder nicht hierhin gehören würde.
Weil Sie bei der Kontrolle nicht den Ausweis zeigten, erhielten Sie eine Busse. Dagegen gingen Sie bis vor Bundesgericht und dann an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Wo steht Ihr Fall jetzt?
Der EGMR hat den Fall angenommen, womit eine grosse Hürde überwunden ist. Ich mache das nicht wegen mir, sondern um ein System aufzuzeigen. Und ich mache es für all die anderen, die es nicht können, weil sie sich nicht getrauen oder keine Mittel haben. Wir sind viele. Die Allianz gegen Racial Profiling hat ausführliche Interviews mit 30 Menschen geführt, die alle Ähnliches erlebt haben. Kopftuchträgerinnen, Sinti, Schwarze Menschen, Asiaten oder Menschen, die als Migranten wahrgenommen werden: Sie alle haben gemerkt, dass sie wegen äusserer Merkmale von der Polizei kontrolliert werden.
Oft wird damit argumentiert, dass äussere Merkmale bei Polizeiermittlungen nun einmal eine Rolle spielen würden.
Bei konkreten Verdachtsmomenten ist das in Ordnung. Ich bin ja auch für Sicherheit. Aber nur nach einem «Schwarzen Mann» zu fahnden, das ist doch lächerlich. Schwarze Männer sind unterschiedlich – es gibt grosse und kleine, alte und junge, Leute aus Afrika, aus den USA, aus Jamaika, aus Brasilien... Wer genau wird denn gesucht? Man kann nicht alle in einen Topf werfen. Polizisten nehmen Schwarze Menschen viel stärker unter die Lupe. Ich wurde einmal in Olten kontrolliert. Neben mir stand eine Bekannte, eine Weisse. Sie hatte Marihuana dabei; aber die Polizei sah die blonde Frau nicht, nur mich. Dabei habe ich noch nie eine Zigarette geraucht, noch nie Alkohol konsumiert – ausser, wenn er im Risotto ist... (lacht) Früher habe ich bei Kontrollen geschwiegen, habe den Ausweis gezeigt und bin weitergegangen. Aber danach, bei der Arbeit oder zu Hause, war ich wütend, weil ich es ungerecht fand. Seit ich mich gegen Racial Profiling engagiere, bin ich frei. Ich spüre Empowerment und ich möchte, dass auch andere Schwarze Menschen diese Ermächtigung erfahren können.
Wie nehmen Sie die aktuellen «Black Lives Matter»-Kundgebungen in den USA, aber auch in der Schweiz wahr?
Nach George Floyds Tod habe ich ein paar Freunden eine Whatsapp-Nachricht geschickt. Ich schlug ein Memorial vor, mit Kerzen und Gedichten. Ich ging davon aus, dass wir zehn oder fünfzehn Leute sein würden. Dann sagte mir eine Freundin, dass wohl viele Leute kommen würden, vielleicht sogar 30. Wir beschlossen, das Memorial im Berner Rosengarten abzuhalten – dort kann man gut Abstand halten, wegen Corona. Am Ende kamen etwa 400 Menschen. Das war ein unglaubliches Erlebnis. Schwarze, People of Color und Weisse haben zusammen getrauert. Viele verstehen, dass es auch in der Schweiz diskriminierende und gewaltvolle Polizeikontrollen gibt.
Was können wir alle gegen Rassismus tun?
Es geht mir nicht darum, einzelne Menschen als Rassisten zu bezeichnen. Das interessiert mich nicht. Aber die Menschen sollten sich Gedanken über unser System machen. Genau wie ich als Mann anlässlich der MeToo-Bewegung gemerkt habe, dass ich die Feministinnen wahrnehmen und den systematischen Sexismus verstehen sollte. Ich muss mir Gedanken machen darüber, wieso Frauen sich Sorgen machen, wenn sie nachts durch die Strassen gehen, und wir Männer uns keine Sorgen machen. So ist es auch mit der strukturellen Diskriminierung.
Ist das Wort «Rassismus» überhaupt sinnvoll? Es gibt ja keine menschlichen Rassen.
Es gibt keine Rassen, aber Menschen werden laufend nach ihrer Hautfarbe beurteilt. Man sollte sich mit der Geschichte auseinandersetzen. Damit, dass die Schweiz von der Sklaverei und vom Kolonialismus profitiert hat, oder damit, dass hier Schwarze wie Tiere im Zoo ausgestellt wurden. Und man sollte nicht schweigen, wenn man zum Beispiel eine ungerechtfertigte Kontrolle sieht. Schweigen hilft uns nicht.