Am 3. Oktober kündigte Pakistan an, ab dem 1. November alle im Land verbliebenen nicht registrierten afghanischen Geflüchteten in ihr Herkunftsland abzuschieben. Seitdem sind Berichten zufolge mindestens 300'000 Menschen nach Afghanistan abgeschoben worden, wo die menschenrechtliche und humanitäre Lage äusserst prekär ist.
Zehntausende afghanische Geflüchtete leben seit Jahrzehnten in Pakistan. Diese jüngste Entscheidung wird sie jedoch dazu zwingen, sich erneut nach Afghanistan und damit in Gefahr zu begeben. Ganz besonders gefährdet sind afghanische Frauen und Mädchen, deren Rechte auf Bildung, Beschäftigung und Bewegungsfreiheit auf dem Spiel stehen. Für die meisten afghanischen Frauen und Mädchen besteht die einzige Chance auf eine formale Bildung darin, in Pakistan zu bleiben. Bei einer Abschiebung nach Afghanistan würde zudem bestimmten Gruppen Verfolgung und Repression durch die Taliban drohen, so z. B. Journalist*innen, Menschenrechtler*innen, Protestteilnehmer*innen, Künstler*innen und ehemaligen Regierungsbediensteten.
Afghan*innen in ganz Pakistan sind nun zudem unmittelbar in Gefahr, ihre Unterkunft, Existenzgrundlage, den Zugang zu lebenswichtigen Dienstleistungen und sogar den Kontakt mit ihrer Familie zu verlieren. Dies ist umso ernster, da der Winter vor der Tür steht.
Seit dem 1. November sind nicht registrierte afghanische Geflüchtete u. a. willkürlicher Festnahme und der Trennung von ihren Familien ausgesetzt. Betroffen sind auch Minderjährige, Frauen und ältere Menschen. Es wurden Hafteinrichtungen zu Abschiebezwecken eingerichtet, zu denen Medienschaffende, Rechtsbeistände, Angehörige der Zivilgesellschaft und gar Familienmitglieder keinen Zutritt haben. Häuser von Afghan*innen wurden abgerissen und Grundstücke beschlagnahmt. Es wurden mehrere Fälle dokumentiert, in denen afghanische Flüchtlinge mit ordnungsgemässen Papieren von den Behörden abgeschoben wurden. Die Regierung hat für die «nächste Phase» der Abschiebungen auch die Ausweisung von Flüchtlingen mit Ausweispapieren angekündigt.
Die Abschiebungen und das Vorgehen der Behörden gegen afghanische Geflüchtete verstossen gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen Pakistans, insbesondere gegen den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement-Prinzip).
Pakistan beherbergt seit 40 Jahren die grösste afghanische Flüchtlingsbevölkerung der Welt. Laut Angaben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) leben derzeit mehr als 3,7 Mio. afghanische Staatsangehörige in Pakistan. Hierzu zählen 600'000 Menschen, die nach dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung im August 2021 aus Angst vor Repressalien durch die Taliban aus Afghanistan geflohen sind. Darunter befinden sich Hunderte Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen, Aktivist*innen und Protestteilnehmer*innen sowie weitere Andersdenkende, die in Pakistan auf ihre Umsiedlung in ein Drittland warten und nun im Rahmen der neuen Frist drangsaliert werden.
Amnesty International hat dokumentiert, dass die Taliban in Afghanistan mit aussergerichtlichen Hinrichtungen, willkürlichen Festnahmen, Folter und Verschwindenlassen gegen Andersdenkende, Journalist*innen, Aktivist*innen, ehemalige Regierungsbedienstete und andere vorgehen. Die Taliban verstossen gegen die Rechte von Frauen und Mädchen, indem sie ihnen den Zugang zu Beschäftigung sowie zur Schulbildung über die Grundschule hinaus verweigern. Diese schweren Rechtsverstösse stellen in ihrer Gesamtheit ein System dar, das Frauen und Mädchen in fast allen Lebensbereichen unterdrückt und diskriminiert.
Die pakistanische Regierung führt kurz vor dem Winter massenhafte Abschiebungen durch, während in Afghanistan bereits eine humanitäre Krise herrscht. Die Abgeschobenen riskieren Obdachlosigkeit, den Verlust ihrer Existenzgrundlage und den fehlenden Zugang zu wichtigen Dienstleistungen. In Afghanistan leben mehr als 97% der Bevölkerung in Armut, und schätzungsweise 29 Mio. Menschen – fast drei Viertel der rund 40 Mio. Einwohner*innen – benötigen Nothilfe zum täglichen Überleben. Darüber hinaus ist der von den Vereinten Nationen ins Leben gerufene humanitäre Hilfsfonds für Afghanistan (Afghanistan Humanitarian Response Plan) stark unterfinanziert. Die menschenrechtliche und humanitäre Krise wird durch Naturkatastrophen wie Erdbeben, die Auswirkungen des Klimawandels und die seit Jahren anhaltende Dürre noch verschärft. Im Oktober 2023 litten Tausende Menschen unter den Folgen von Erdbeben in der Provinz Herat, wo mehr als 2'000 Menschen ums Leben kamen und zahlreiche Häuser zerstört wurden.
Der UN-Sonderberichterstatter über die Lage der Menschenrechte in Afghanistan, Richard Bennett, der Sonderberichterstatter über die Menschenrechte von Migrant*innen, Felipe González Morales, sowie die Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen, Reem Alsalem, haben die pakistanische Regierung aufgerufen, die Pläne zur Abschiebung nicht registrierter afghanischer Geflüchteter umgehend auf Eis zu legen. Diese Expert*innen äusserten ihre Besorgnis über die mögliche Abschiebung (Refoulement) afghanischer Staatsangehöriger nach Afghanistan, die für viele – darunter zahlreiche Familien, Frauen und Kinder – nicht wiedergutzumachendes Leid mit sich bringen könnte. Sie betonten, dass diese Personen bei einer Abschiebung mit schweren Menschenrechtsverletzungen und -verstössen rechnen müssen. Auch das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte forderte die pakistanischen Behörden auf, die Abschiebung afghanischer Staatsangehöriger auszusetzen, um eine Menschenrechtskatastrophe zu verhindern.
Pakistan ist zwar nicht Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und dem Protokoll von 1967, das Land untersteht aber dennoch dem Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement-Prinzip). Das Verbot der Zurückweisung ist eine Verpflichtung aus dem Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, dem Pakistan beigetreten ist. Dieses Prinzip untersagt die Verbringung von Personen in Länder, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen würden.
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