Die strafrechtliche Verfolgung von Marcelo Nahuel Morandini, Humberto Roque Villegas und Lucía González wegen ironischer Kommentare über die Ehefrau eines ehemaligen Gouverneurs der Provinz Jujuy gibt Anlass zur Besorgnis. Grundlage der Anklagen gegen sie sind allein Beiträge in Sozialen Medien oder sogar auf einer privaten Kommunikationsplattform.
Das Recht auf freie Meinungsäusserung ist durch internationale Menschenrechtsnormen geschützt. Dies gilt auch für Meinungsäusserungen, die als schockierend, anstössig oder verstörend wahrgenommen werden können. Der UN-Menschenrechtsausschuss hat zudem klargestellt, dass Inhaber*innen eines öffentlichen Amtes mehr Kritik tolerieren müssen und die Tatsache allein, dass Meinungsäusserungen für eine Person des öffentlichen Lebens als beleidigend empfunden werden könnten, nicht ausreicht, um Strafmassnahmen zu rechtfertigen.
Dass die Strafverfolgung gegen die drei fortgesetzt wird, obwohl Marcelo Nahuel Morandini und Humberto Roque Villegas vorläufig freigelassen wurden und das Gericht vor kurzem auf Antrag der Staatsanwaltschaft entschieden hat, dass der Haftbefehl gegen Lucía Gonzalez aufgehoben werden sollte, gibt nach wie vor Anlass zur Sorge. Darüber hinaus scheint die gegen Marcelo Nahuel Morandini und Humberto Roque Villegas verhängte Disziplinarmassnahme, die sie verpflichtet, sich nicht zu dem Fall oder zu den Personen zu äussern, die die Anzeige erstattet haben, eine zusätzliche übermässige und unverhältnismässige Einschränkung darzustellen.
Nach internationalem Recht müssen regionale wie lokale Behörden den menschenrechtlichen Verpflichtungen Argentiniens Folge leisten. Anklagen, mit denen das Recht auf freie Meinungsäusserung eingeschränkt wird, können unverhältnismässige Folgen und eine allgemeine einschüchternde Wirkung auf die Gesellschaft nach sich ziehen.
Am 4. Januar 2024 wurde Marcelo Nahuel Morandini im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen von den Behör-den der Provinz Jujuy festgenommen, nachdem Tulia Snopek, die Ehefrau von Gerardo Morales, dem ehemaligen Gouverneur der Provinz, Anzeige erstattet hatte. Die Anzeige bezog sich auf einen Beitrag über einen vermeintlichen Seitensprung von Tulia Snopek mit einem Sänger, den Marcelo Nahuel Morandini, ein 45-jähriger Ingenieur und Lehrer, im Sozialen Netzwerk X (ehemals Twitter) veröffentlicht hatte. Die Behörden der Provinz Jujuy leiteten daraufhin strafrechtliche Ermittlungen ein, in deren Rahmen sie auch die Festnahme von Humberto Roque Villegas anordneten. Der 42-jährige selbständige Siebdrucker hatte in seinen Facebook-Posts ähnliche Anspielungen gemacht.
Das Strafverfahren stützt sich auf angebliche psychische Verletzungen durch geschlechtsspezifische Gewalt und das Verbrechen der «Unterdrückung der Identität» einer Minderjährigen (der zweieinhalbjährigen Tochter von Gerardo Morales). Bei einer Verurteilung drohen den Angeklagten bis zu acht Jahren Haft. Ausserdem wurden der Frauenrat der Provinz und Gerardo Morales selbst als Kläger in dem Strafverfahren benannt.
Die Behörden erliessen auch einen Haftbefehl gegen Lucía González wegen eines Kommentars, den sie in einer WhatsApp-Gruppe zum selben Thema abgegeben hatte. Der Haftbefehl wurde vor kurzem auf Antrag der Staatsanwaltschaft durch eine Entscheidung des Gerichts aufgehoben; die Ermittlungen gegen sie gehen jedoch weiter, und ihr könnte ein Prozess mit einer möglichen Verurteilung zu zwei bis sechs Jahren Haft bevor-stehen. Lucía González wird in derselben Anklageschrift auch der seelischen Verletzung von Tulia Snopek angeklagt.
Die Anklage gegen die drei erfolgte nach Paragraf 139 Absatz 2 des argentinischen Strafgesetzbuchs. Er sieht eine Freiheitsstrafe von zwei bis sechs Jahren für alle vor, die durch irgendeine Handlung die Identität einer minderjährigen Person unter zehn Jahren unklar erscheinen lassen, ändern oder unterdrücken, sowie für alle, die diese Identität zurückhalten oder verheimlichen. Dieser Straftatbestand setzt voraus, dass die besagte Handlung geeignet ist, eine Änderung der Identität der minderjährigen Person zu bewirken. Die Handlung ist vollzogen, wenn eine solche Änderung der Identität erreicht wird. Kommentare in einem Sozialen Netzwerk oder einer privaten WhatsApp-Nachricht reichen nicht aus, um die Änderung einer Identität zu bewirken. Marcelo Nahuel Morandini, Humberto Roque Villegas und Lucía González werden einer Straftat angeklagt, die nicht vorliegt, denn die Veröffentlichungen in Sozialen Netzwerken oder in E-Mails reichen nicht aus, um die Löschung oder Änderung einer Identität zu erreichen. Darüber hinaus wird die Identität des Mädchens in keiner dieser Veröffentlichungen erwähnt. Auch die beiden Männer werden in der gleichen Anklageschrift der seelischen Verletzung von Tulia Snopek angeklagt.
Die Verteidigung von Marcelo Nahuel Morandini und Humberto Roque Villegas beruft sich darauf, dass es sich bei den Beweisen in beiden Fällen um Beiträge in den Sozialen Medien handelt. Marcelo Nahuel Morandini und Humberto Roque Villegas berichteten auch, dass sie in den ersten Tagen ihrer Haft im Gefängnis Barrio Gorriti in San Salvador de Jujuy unmenschlicher und herabwürdigender Behandlung ausgesetzt gewesen waren. Der nationale Ausschuss gegen Folter erstattete daraufhin Anzeige bei der Staatsanwaltschaft.
Diese Untersuchung und die gegen die drei Personen erhobenen Anklagen sind äusserst besorgniserregend. Sie verletzen nicht nur ihr Recht auf freie Meinungsäusserung, sondern können auch eine abschreckende Wirkung auf den Rest der Bevölkerung haben, die davon ausgehen könnte, Repressalien fürchten zu müssen.
Amnesty International hat bereits früher seine Besorgnis über Menschenrechtsverletzungen in Jujuy zum Ausdruck gebracht. Im Juni 2023 kam es in der Provinz bei Demonstrationen anlässlich einer im Juni genehmigten Verfassungsreform zu gewaltsamen Repressionen seitens der Polizei. Darüber hinaus dokumentierte die Organisation willkürliche Inhaftierungen und exzessive Gewaltanwendung durch Staatsbedienstete sowie andere Verletzungen der Rechte auf Freiheit, körperliche Unversehrtheit, friedliche Versammlung und freie Meinungsäusserung. Viele Betroffene verzichteten darauf, Anzeige zu erstatten, weil sie eine strafrechtliche Verfolgung wegen ihrer Teilnahme an den Protesten befürchteten. Gleichzeitig stellte Amnesty International fest, dass die Behörden kaum etwas unternahmen, um Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, die von den Sicherheitskräften während der Demonstrationen begangen wurden, zu untersuchen.
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