© Amnesty International / Anna Shea
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Definition von Armut

Armut hat viele Gesichter. Sie ist mehr als das Fehlen von Ressourcen. Vielmehr wird Armut durch den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kontext eines Landes mitdefiniert.

Menschen, die in Armut leben und über ihre Erfahrungen sprechen, erwähnen nicht nur ihre Mittellosigkeit – auch wenn diese eine zentrale Rolle in ihrem Alltag spielt. Sie erklären beispielsweise, dass sie nicht die nötigen Mittel besitzen, um ihre Kinder in die Schule zu schicken und dass sie befürchten, die Schule oder ihr Haus würden von Bulldozern zerstört.

Sie äussern Furcht vor Gewalt, die allgegenwärtig ist. Sie haben Angst, als Verbrecher oder Verbrecherinnen behandelt zu werden. Sie sagen, sie würden nicht angehört, dass sie ausgegrenzt würden; nicht nur aus der Gesellschaft, sondern auch von Entscheidungen, die sie betreffen. Sie sehen ihre Lebensgrundlagen schwinden, wenn multinationale Unternehmen Raubbau an den Reichtümern unter ihren Füssen betreiben. Sie sprechen von willkürlichen Verhaftungen, von Ausgrenzung, von mangelndem Zugang zum Justizsystem. Sich unsichtbar zu fühlen und unverstanden, keine Stimme zu haben und an den Rand der Gesellschaft abgeschoben zu werden, bezeichnen viele Menschen, die in Armut leben, als ihr grösstes Leid.

Wenn Menschen in Armut leben

Wenn Menschen in Armut leben, sind ihre und die Sicherheit ihrer Familie täglich bedroht. Ihre Wohnung, ihr Besitz und ihre Mittel sind prekär und nicht durch das Recht geschützt. Nur selten haben sie eine feste Anstellung, und im Allgemeinen auch überhaupt keine Macht gegenüber ihrem Arbeitgeber. Sie verfügen über keine Rechtsmittel, falls ihre Vorgesetzten ihre Macht über sie missbrauchen. Sie sind öfter krimineller Gewalt und Konflikten ausgesetzt und weniger durch das Recht und die Polizei geschützt. Dieser Schutz ist den finanziell besser gestellten und einflussreichen Menschen vorbehalten.
Wenn Menschen in Armut leben, werden ihre Menschenrechte regelmässig verletzt. Während ihnen ihre Rechte verwehrt werden, bleiben sie in der Armut gefangen.

Menschenrechte = weniger Armut

Nur wenn jedem Mensch das Recht auf ein Leben in Würde, das Recht auf Nahrung, Gesundheitsversorgung, Ausbildung und angemessene Unterkunft zugestanden wird, sind die Menschenrechte vollständig respektiert.
So erhalten die Menschen ein Instrument, das ihnen erlaubt, ihre Lebensumstände zu ändern. Menschen, die in Armut leben, werden ausgegrenzt, in ihrer Meinungsäusserungsfreiheit eingeschränkt und durch Gewalt und Unsicherheit bedroht. Sobald ihre Rechte respektiert werden, öffnet sich die Falle, in der sie gefangen sind.
Die Respektierung der Menschenrechte verlangt, dass jeder Mensch berücksichtigt wird, dass jeder Mensch eine Stimme erhält. Die Machthabenden müssen dafür sorgen, dass alle ohne Furcht und Not leben können, wie es die Staaten 1948 mit der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vereinbart haben.

Stimmen, die wir nicht hören wollen

Menschen, die in Armut leben, werden von den Mächtigen vor Ort ignoriert. Sie nehmen an, dass ihre Meinung nicht zählt. Ob Menschen absichtlich zum Schweigen gebracht werden oder ob sie aus Gleichgültigkeit nicht wahrgenommen werden, das Resultat ist dasselbe: ein starkes Gefühl, sich kein Gehör verschaffen zu können. Es ist kein Zufall, dass die ärmsten Länder der Welt jene mit den repressivsten Machtsystemen sind. Auch in demokratisch regierten Ländern betonen armutsbetroffene Menschen die Schwierigkeiten, denen sie begegnen, wenn sie gehört werden wollen.
Diese Menschen sagen auch, dass sie sich von den Institutionen ausgeschlossen fühlen, welche öffentliche Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Gerichte, Polizei, Sozialhilfe, StadträtInnen – offiziell zu Gleichbehandlung verpflichtet – reagieren oft mit Missachtung und Gleichgültigkeit gegenüber benachteiligten Personen. Armutsbetroffene Frauen stossen auf noch mehr Hindernisse. Familie und Gesellschaft schliessen sie von Entscheidungs- und Machtprozessen aus. Sie erschweren ihnen beispielsweise die Ausübung des Rechts auf Eigentum und Boden sowie der körperlichen Selbstbestimmung.