Die afghanische Journalistin Shirin (geänderter Name) erzählt, dass sie vor den Taliban geflohen sei, nachdem diese auf sie geschossen hätten. Doch auch nach ihrer Flucht fühle sie sich im griechischen Flüchtlingslager nicht sicher. © AI
Die afghanische Journalistin Shirin (geänderter Name) erzählt, dass sie vor den Taliban geflohen sei, nachdem diese auf sie geschossen hätten. Doch auch nach ihrer Flucht fühle sie sich im griechischen Flüchtlingslager nicht sicher. © AI

Zahlen, Fakten und Hintergründe Afghanische Flüchtlinge in der Schweiz und die Menschenrechtslage in Afghanistan

11. Oktober 2017
Afghanen und Afghaninnen machen die drittgrösste Gruppe von Asylsuchenden in der Schweiz in den Jahren 2015 und 2016 aus. Trotz der sich verschärfenden Sicherheitslage mit vielen zivilen Opfern werden von der Schweiz viele Asylsuchende nach Afghanistan ausgeschafft.

Anzahl afghanische Asylsuchende 2016: 3‘229 Personen (-45% gegenüber 2015)
Anerkennungsquote, d. h. als Flüchtlinge anerkannt: 215 Personen (8.2 %);
Vorläufige Aufnahmen, da eine Wegweisung illegal/unzumutbar ist: 1‘180 (44.7 %).

Anzahl afghanische Asylgesuche im ersten Halbjahr 2017: 625 Personen (-74.1% gegenüber Vorjahr);
Anerkennungsquote, d.h. als Flüchtlinge anerkannt: 11.2%;
Vorläufige Aufnahmen, da eine Wegweisung illegal/unzumutbar ist: 72.6%.

 

Afghanistan ist weiterhin von einem bewaffneten Konflikt betroffen, in welchem die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte – unterstützt von den internationalen Streitkräften der Nato und insbesondere der USA – den Taliban und rund zwanzig regierungsfeindlichen Gruppierungen gegenüberstehenden.

Afghanische Flüchtlinge

Gemäss UNHCR lebten Ende 2016 ungefähr 2,5 Millionen afghanische Flüchtlinge in über 70 verschiedenen Ländern, was sie zur zweitgrössten Flüchtlingsgruppe weltweit macht. Ungefähr 95 Prozent davon leben in den beiden Ländern Iran und Pakistan. Ende 2016 befanden sich rund 1,4 Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan und 951‘100 im Iran. Dagegen lebten Ende 2016 rund 46‘300 afghanische Flüchtlinge in Deutschland und 20‘200 in Österreich, 16‘600 in Schweden, 16‘000 in Italien und 11‘400 in Griechenland und 5650 in der Schweiz. Im Jahre 2016 wurden laut UNHCR 69‘500 afghanische Staatsangehörige neu als Flüchtlinge anerkannt.

Im September 2016 betrug die Zahl der in Afghanistan intern Vertriebenen ungefähr 1,4 Millionen Menschen. Es ist festzuhalten, dass sich deren Lage im Laufe der letzten Jahre deutlich verschlechtert hat. In erster Linie sind sie mit Problemen beim Zugang zu medizinischer Versorgung konfrontiert.

Verschlechterte Menschenrechtslage

Die erneute Verschärfung des nun seit 14 Jahren andauernden Konflikts führt zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Die Zahl ziviler Opfer bei Kämpfen und Angriffen hat nach Angaben der Uno im Jahr 2016 einen neuen Höchststand erreicht – es gab fast 11‘500 zivile Tote oder Verletzte, ein Drittel davon waren Kinder. Die UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) dokumentierte rund 3500 Todesopfer und mehr als 7900 Verletzte.

Auch im Jahr 2017 steigt die Zahl der Opfer weiter an. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2017 dokumentierte die UNANA bereits 5243 zivile Todesopfer (1662 Tote und 3581 Verletze). Das sind zwei Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Uno betont, dass ihre Zahlen angesichts der sich ausweitenden Kämpfe und wegen des eingeschränkten Zugangs in die Provinzen vermutlich eher zu tief angesetzt seien.

In allen Teilen des Landes fanden Angriffe auf die Zivilbevölkerung statt, die meisten wurden von bewaffneten Gruppierungen wie den Taliban oder dem «Islamischen Staat» ausgeführt. Nach Angaben der UNAMA waren im ersten Halbjahr 2016 bewaffnete Gruppen für rund 60 Prozent der Getöteten und Verletzten verantwortlich. Regierungstreue Kräfte, darunter afghanische Sicherheitskräfte, die örtliche afghanische Polizei, regierungstreue bewaffnete Gruppen und die internationalen Streitkräfte seien für 24 Prozent der getöteten und verletzten zivilen Opfer verantwortlich.

Die Sicherheitslage hat sich besonders in Kabul dramatisch verschlechtert. Mindestens zwölf grosse Anschläge seit Januar 2017 und viele kleinere in mittlerweile wöchentlichem Rhythmus haben unzählige zivile Opfer gefordert. In diese Kategorie fällt auch das Bombenattentat vor der deutschen Botschaft vom 31. Mai 2017: Mehr als 150 Menschen kamen dabei ums Leben, doppelt so viele wurden verletzt. Kabul ist mittlerweile zur gefährlichsten Stadt Afghanistans geworden – rund ein Fünftel der zivilen Todesfälle haben sich hier ereignet.

Vielfältige Fluchtgründe

Die dramatische Sicherheitslage ist einer der wichtigsten Gründe für die gegenwärtige Flucht vieler Afghaninnen und Afghanen. Viele Personen sind gefährdet, weil die Konfliktparteien sie wegen (zum Teil rein vermuteter) Kollaboration mit der einen oder anderen Seite verfolgen. Grosse Teile der Bevölkerung – einschliesslich Frauen, Kinder, ethnische Minderheiten, Häftlinge und andere Gruppen – sind zudem spezifischen Menschenrechtsverletzungen durch unterschiedliche Akteure ausgesetzt.

Potentiell besonders gefährdet sind Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft verbunden sind oder diese unterstützen. Über gezielte Tötungen hinaus setzen regierungsfeindliche Kräfte Bedrohungen, Entführungen und Brandanschläge ein, um diese Personen einzuschüchtern. Sie versuchen dadurch ihren Einfluss und ihre Kontrolle auszudehnen, indem diejenigen angegriffen werden, die ihre Autorität und Anschauungen infrage stellen. Ins Visier genommen werden insbesondere MenschenrechtsaktivistenInnen, besonders gefährdet sind dabei Frauen.

Praxis der Schweizer Behörden

Obwohl das Staatssekretariat für Migration (SEM) zahlreichen AfghanInnen einen Schutzstatus erteilt, schafft es trotz dieser gravierenden Sicherheitslage nach wie vor Menschen nach Afghanistan aus und bringt damit Menschenleben in Gefahr. Die Schweizer Behörden halten eine Wegweisung von afghanischen Asylsuchenden in die Städte Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif weiterhin für zumutbar, sofern diese dort ein familiäres oder soziales Netzwerk haben. Amnesty International fordert weltweit, angesichts der unsicheren Lage vor Ort Rückschaffungen nach Afghanistan gänzlich auszusetzen.

 

Zur Menschenrechtslage in Afghanistan

Wie auch die Taliban und die anderen regierungsfeindlichen Gruppierungen setzt auch die Regierung Gewalt ein - auch gegen ZivilistInnen. Die Regierung verübt Folter und richtet Menschen hin, oft nach unfairen Gerichtsverfahren. Insbesondere gegenüber Personen, denen Unterstützung von regierungsfeindlichen Kräften zur Last gelegt wird, gibt es Berichte über den Einsatz von Folter. Die UNAMA meldet zudem Fälle von extralegalen Hinrichtungen und Zwangsverschleppungen von Inhaftierten durch die afghanische Nationalpolizei und durch lokale Polizeibehörden. Es herrscht dabei weitgehend Straflosigkeit, da die Anwendung von Folter immer noch keine Konsequenzen nach sich zieht. Der Uno-Ausschuss gegen Folter (CAT) äusserte daher im Jahr 2017 seine Besorgnis über die systematische Anwendung von Folter in Afghanistan.

Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen durch alle Konfliktparteien für Unterstützungs-und Kampfhandlungen stellen eine grosse Gefährdung für Kinder im rekrutierungsfähigen Alter dar. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden.

Diskriminierungen und Gewalt an Minderheiten

Nicht-muslimische religiöse Minderheiten, insbesondere ChristInnen, Hindus und Sikhs, werden diskriminiert, erfahren gesellschaftliche Schikanen und in manchen Fällen Gewalt. Eine Konversion vom Islam wird als Apostasie betrachtet und als Straftat behandelt. Konvertierende riskieren die Annullierung ihrer Ehe und eine Enteignung ihrer gesamten Bodenbesitze und sonstigen Eigentums. Ausserdem können sie von ihren Familien und Gemeinschaften verstossen werden und ihre Arbeit verlieren.

Auch Angehörige von ethnischen Minderheiten haben mit Diskriminierungen zu kämpfen. Insbesondere die NomadInnen in Afghanistan – allgemein als Kuchis bezeichnet – bilden eine marginalisierte Gruppe. Auch die Ethnie der Hazara wird weiterhin gesellschaftlich diskriminiert und gezielt durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit und körperliche Misshandlung unter Druck gesetzt.

Bewaffnete Gruppierungen, so etwa die Taliban, führen Tötungen, Folter oder andere Menschenrechtsverletzungen als Bestrafung für nach ihrer Wahrnehmung erfolgte Verstösse gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte. Berichten zufolge wurden Personen festgenommen, weil sich diese den Bart abrasiert haben. Frauen ist es nur in Begleitung eines Mannes gestattet, das Haus zu verlassen. Personen, die gegen diese Regeln verstossen, werden mit öffentlichen Auspeitschungen bestraft.

Zunehmende Gewalt gegen Frauen, Medienschaffende und LGBTI

Die Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen ist ein immenses Problem. Straflosigkeit für geschlechtsspezifische Verbrechen an Frauen bleibt die Regel. Auch sexuelle Gewalt ist in Afghanistan weiterhin stark verbreitet. Diese schliesst Ehrenmorde, Entführung, Vergewaltigung, Zwangsabtreibung und häusliche Gewalt ein. Tausende Fälle von Prügelattacken, Tötungen und Säureanschläge gegen Frauen und Mädchen wurden im Jahr 2016 dokumentiert. Sexuelle Handlungen ausserhalb der Ehe werden von der afghanischen Gesellschaft weithin als Entehrung der Familie angesehen. Daher sind Vergewaltigungsopfer dem Risiko von Ausgrenzung, Zwangsabtreibung, Gefängnishaft oder sogar Tötung ausgesetzt.

Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen (LGBTI) droht gemäss der Scharia die Todesstrafe. Homosexualität ist weiterhin gesellschaftlich tabuisiert und wird mit Ächtung und Gewalt geahndet.

JournalistInnen und weitere Medienschaffende müssen sich mit Zensur herumschlagen, werden aber auch Opfer von gewalttätigen Angriffen. Die Meinungsäusserungsfreiheit, welche nach der Entmachtung der Taliban im Jahre 2001 gestärkt wurde, wurde nach und nach durch gewalttätige Angriffe sowie Einschüchterung und Tötung von JournalistInnen ausgehöhlt und geschwächt. Zwischen Januar und November 2016 wurden gemäss Nai, einer Überwachungsorganisation für Medienfreiheit, über 100 Fälle von Angriffen auf JournalistenInnen gemeldet. Für die Mehrheit der Vorfälle sind staatliche Behörden verantwortlich.