Die religiöse Minderheit der Jesiden wird vom sogenannten Islamischen Staat im Norden Iraks verfolgt. Männer und Buben wurden getötet, Frauen wurden verschleppt und versklavt. Tausende sind geflohen. Die Uno spricht von einem Völkermord. © AI
Die religiöse Minderheit der Jesiden wird vom sogenannten Islamischen Staat im Norden Iraks verfolgt. Männer und Buben wurden getötet, Frauen wurden verschleppt und versklavt. Tausende sind geflohen. Die Uno spricht von einem Völkermord. © AI

Zahlen, Fakten und Hintergründe Flüchtlinge aus Irak in der Schweiz

7. November 2017
Mehr als 3,5 Millionen Iraker und Irakerinnen sind im eigenen Land auf der Flucht, nur wenige schaffen es ins Ausland. In der Schweiz lebten 2016 gerade einmal 8598 IrakerInnen. Die Menschenrechts- und die Sicherheitslage sind prekär, weshalb gegenwärtig keine Ausschaffugnen vollzogen werden.

Anzahl irakische Asylsuchende 2016: 1312 Personen (-45% gegenüber 2015);
Anerkennungsquote, d.h. als Flüchtlinge anerkannt: 115 Personen (10.2 %);
Vorläufige Aufnahmen, da eine Wegweisung illegal/unzumutbar ist: 240 Personen (21.2 %).

Anzahl irakischeAsylsuchende im ersten Halbjahr 2017: 374 Personen (-58.8 % gegenüber Vorjahr);
Anerkennungsquote, d.h. als Flüchtlinge anerkannt: 11.2%;
Vorläufige Aufnahmen, da eine Wegweisung illegal/unzumutbar ist: 72.6%.

 

3,6 Millionen IrakerInnen waren laut UNHCR Ende 2016 im eigenen Land auf der Flucht. Damit leben im Irak die drittmeisten Binnenvertriebenen weltweit.

Laut dem UNHCR haben im Jahr 2016 rund 185'100 IrakerInnen im Ausland um Asyl ersucht. Die meisten davon – rund 96'000 – in Deutschland, 28'000 in der Türkei. Am 31. Dezember 2016 lebten 227'195 IrakerInnen in Deutschland. In der Schweiz waren es vergleichsweise wenig, nämlich 8598 Personen.

Verschlechterung der Lage im ganzen Land

Der Irak ist politisch, konfessionell und territorial tief gespalten. Das Zentrum und der Süden des Landes sind von einem bewaffneten Krieg betroffen, in welchem sich IS-KämpferInnen auf der einen Seite und eine Koalition aus irakischer Armee, paramilitärischen Milizen und kurdischen Peschmerga-KämpferInnenn, die von einer US-geführten internationale Koalition unterstützt werden, gegenüber stehen. Die gegenwärtige Situation ist durch eine fortdauernde Unsicherheit gekennzeichnet. Nach Angaben der Uno wurden im Jahr 2016 rund 6‘900 Zivilpersonen getötet und weitere 12'400 verletzt. Die militärischen Operationen rund um Mosul im Jahr 2017 haben zu Vertreibungen von über einer Million Menschen geführt. Der sogenannte Islamische Staat IS konnte dabei zwar zurückgedrängt werden, kontrolliert aber weiterhin grosse Teile des Landes.

Die Region Kurdistan-Irak (Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah/Halabja) ist derzeit von den Kämpfen in den Nachbarprovinzen nicht unmittelbar betroffen, die Sicherheitslage ist aber aufgrund der Nähe zum IS-kontrollierten Gebiet auch hier weiter angespannt. Die humanitäre Lage in der Region hat sich zudem weiter zugespitzt. Die Anzahl syrischer Flüchtlinge und irakischer intern Vertriebener ist auf über eine Million Personen gewachsen. Zudem sind die Kurden dabei, einen autonomen Staat zu gründen. Am 25. September 2017 sprach sich das Volk für die Unabhängigkeit der Autonomen Region Kurdistan vom Irak aus. Seit dem umstrittenen Referendum ist die Lage in der Region äusserst angespannt. Eine weitere Eskalation des Konflikts wird von vielen Seiten befürchtet.

Vielfältige Fluchtgründe

Vor allem die gravierende Sicherheitslage durch den bewaffneten Konflikt im Zentral- und Südirak zwingen viele IrakerInnen dazu, ihr Land zu verlassen. Viele Personen sind gefährdet, weil die Konfliktparteien sie wegen – teils vermuteter – Kollaboration mit der einen oder anderen Seite verfolgen. So sind im Zentral- und Südirak vermeintliche GegnerInnen der irakischen Regierung potentiell gefährdet. Mutmassliche Terrorverdächtige werden ohne Haftbefehl festgenommen und ohne jeglichen Kontakt zur Aussenwelt inhaftiert. In den Gefängnissen sind Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen an der Tagesordnung. Personen, welche für nationale oder internationale Institutionen arbeiten, werden im Zentral – und Südirak von regierungsfeindlichen Kräften verfolgt. Der IS geht gezielt gegen jene vor, die als Unterstützer der Regierung gelten.

Es sind jedoch im ganzen Land tausende Menschen Gewalt, schweren Menschenrechtsverletzungen, einem eingeschränkten Zugang zu Sicherheit und Bewegungsfreiheit, Entführungen und illegalen Inhaftierungen ausgesetzt. Insbesondere das Niveau politischer und interkonfessioneller Gewalt ist in allen Teilen Iraks sehr hoch.

Praxis der Schweizer Behörden

Angesichts der Situation allgemeiner Gewalt im Zentral –und Südirak wird der Wegweisungsvollzug von abgewiesenen Asylsuchenden vom Staatssekretariat für Migration (SEM) aufgrund der konkreten Gefährdung generell als unzumutbar betrachtet.

In den Nordirak wird der Wegweisungsvollzug in der Regel für junge, gesunde und alleinstehende kurdische Männer vom SEM als zumutbar erachtet. Die Personen müssen zudem ursprünglich aus dem von der kurdischen Regionalregierung beherrschten Gebiet stammen und dort nach wie vor über ein soziales Netz verfügen. Momentan sind jedoch Rückführungen in den Nordirak technisch nicht möglich. Als Reaktion auf das Referendum hat die irakische Luftfahrtbehörde angewiesen, alle internationalen Linienflüge in die kurdischen Autonomiegebiete zu stoppen. Mehrere internationale Fluggesellschaften haben daher ihre Flüge in den Nordirak bis auf weiteres ausgesetzt.

Hintergrund: Zur Menschenrechtslage im Irak

Zentral – und Südirak

Die weitverbreiteten Verstösse gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht im bewaffneten Konflikt im Zentral- und Südirak haben gravierende Auswirkungen auf das Leben der Zivilbevölkerung.

Paramilitärische Milizen und Regierungstruppen sind für aussergerichtliche Hinrichtungen und andere rechtswidrige Tötungen und Folter verantwortlich, vor allem von sunnitischen Arabern. Sie liessen Hunderte Männer und Jungen «verschwinden» und zerstören gezielt Häuser und Privateigentum. Kinder werden als SoldatInnen rekrutiert und im Kampf gegen den IS eingesetzt.

Die bewaffnete Gruppe IS verübt im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet werden. In Gebieten unter seiner Kontrolle verübt der IS öffentliche Hinrichtungen. Die Opfer sind mutmassliche Gegner der Miliz. IS-Kämpfer entführen Menschen, darunter Zivilpersonen, und foltern gefangen genommene Personen systematisch. Den Bewohnern von Gebieten unter IS-Kontrolle werden drakonische Verhaltensregeln auferlegt und Verstösse dagegen hart bestraft. Selbsternannte «Gerichte» verurteilen Personen zu Steinigung wegen «Ehebruchs» und zu Peitschenhieben und anderen Körperstrafen, weil sie gegen das Rauchverbot, Bekleidungsvorschriften oder andere IS-Regeln verstossen haben. Auf Personen, die Gebiete unter der Kontrolle des IS verlassen wollen, wird geschossen.

Gewalt und Diskriminierungen gegen Frauen, Medienschaffende und LGBTI

Frauen und Mädchen werden durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert und sind nicht ausreichend gegen sexualisierte und andere geschlechtsspezifische Gewalt geschützt. Sie können Opfer häuslicher Gewalt oder im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der «Ehre» stehender Gewalt werden. Auch Vergewaltigungen, Entführungen und Zwangsheiraten stellen ein drängendes Problem dar. Gerade in den Gebieten, die unter der Kontrolle des IS stehen, wird von sexueller Sklaverei, Vergewaltigungen und Tötungen von Frauen und Mädchen religiöser und ethnischer Minderheiten, insbesondere jesidischen Frauen und Mädchen, berichtet.

Personen, deren sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität nicht den traditionellen Vorstellungen entsprechen werden von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren gefoltert und getötet. In Gebieten, die sich de facto unter der Kontrolle des IS befinden, wird eine strenge Auslegung der Scharia durchgesetzt, wonach einverständliche sexuelle Handlungen zwischen Männern einen Gesetzesverstoss darstellen und mit der Todesstrafe geahndet werden.

JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen, die über heikle Themen wie Korruption oder Menschenrechtsverstösse von Milizen berichteten, müssen damit rechnen, tätlich angegriffen, entführt, eingeschüchtert, schikaniert und mit dem Tode bedroht zu werden.

Diskriminierungen und Gewalt an Minderheiten

Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten werden gezielt diskriminiert und sind einer hohen Gefahr ausgesetzt, bedroht, misshandelt, entführt, vertrieben oder ermordet zu werden. Aus Berichten geht hervor, dass der IS die Mitglieder ethnischer und religiöser Minderheiten im Rahmen einer gross angelegten Strategie zur systematischen Unterdrückung, Vertreibung und Auflösung vieler dieser Gemeinschaften in den von ihm kontrollierten Gebieten verfolgt. JesidInnen, ChristIOnnen, Kakai, KurdInnen, Sabäer-MandäerInnen, SchiitInnen, TurkmenInnen und Schabak werden von der Miliz IS schwer misshandelt.

Kurdische Region

Im Vergleich zum Süd-und Zentralirak weist der Nordirak über eine stabilere und bessere Sicherheits-und Menschenrechtslage auf.

Für gewisse Bevölkerungsgruppen – wie Frauen, LGBTI Personen und ethnischen wie auch religiösen Minderheiten – ist das Risiko menschenrechtswidriger oder diskriminierender Behandlung ausgesetzt zu werden, jedoch auch im Nordirak beträchtlich hoch.

Im kurdischen Nordirak werden zudem JournalistInnen, AktivistInnen und PolitikerInnen, die der regierenden Demokratischen Partei Kurdistans kritisch gegenüberstanden, schikaniert und bedroht, und teilweise auch aus der Provinz Erbil vertrieben. Fälle von getöteten JournalistInnen und KritikerInnen der kurdischen Behörden aus den vergangenen Jahren wurden immer noch nicht untersucht.

Der Sicherheitsdienst Asayish und andere kurdische Sicherheitskräfte nehmen Tausende Menschen wegen Terrorverdachts fest, vor allem sunnitische arabische Männer und Jungen. Die Behörden verstossen in mehrfacher Weise gegen deren Recht auf ein faires Verfahren, u. a. indem sie die Überstellung der Inhaftierten an die Justizbehörden extrem verschleppen und ihnen über lange Zeiträume keinen Zugang zu ihren Familienangehörigen gewähren. Gerichte in der teilautonomen Region Kurdistan verhängen zudem weiterhin Todesurteile für terroristische Straftaten.