«Schau, da steht es: 10.11.2015.» Amir zeigt mit dem Finger auf die kleine, schwarzgedruckte Zahl unterhalb des Fotos. Es ist das Datum seiner Ankunft in der Schweiz. In der Hand hält er den blauen «Ausweis für vorläufig aufgenommene Ausländer», kurz F-Ausweis.
Amir ist klein und sportlich, hat feine Gesichtszüge, schwarzes Haar und ein sehr ansteckendes, sympathisches Lachen. Er ist ausserordentlich freundlich und zuvorkommend. Seine Bewegungen sind energievoll, sein Gang locker, er wirkt selbstsicher und entspannt. Wir verstehen uns auf Anhieb gut.
Amir ist einer von 909 unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden aus Afghanistan, die im Jahr 2015 in die Schweiz kamen.1 Jetzt, drei Jahre später, sitzen wir zusammen an der Aare. Wir kommen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, sprechen nicht dieselbe Sprache und sind uns noch nie zuvor begegnet. Was uns verbindet, ist Offenheit und Interesse. Auf meine Bitte hin beginnt Amir, mir seine Geschichte zu erzählen.
Eine zerstörte Heimat
Aufgewachsen ist er in einem Dorf in der Provinz Ghazni in Zentralafghanistan. Das Landschaftsbild dort ist geprägt von hohen Schneegipfeln, ockerfarbenen Hügeln und grünen Feldern. Das Klima ist kontinental, mit heissen und trockenen Sommern und kalten, niederschlagsreichen Wintern.
Amirs Vater ist Teppichhändler, seine Mutter Hausfrau. Gemeinsam mit seinen Eltern, seinen drei Brüdern und seinen zwei Schwestern wohnte er in einem Haus am Rande eines kleinen Dorfes. Bis zur 9. Klasse besuchte er die Schule, wofür er täglich drei Stunden Fussmarsch in Kauf nahm. «Die Schule war sehr anders als hier, wir waren bis zu 60 Leute pro Klasse», erzählt er und lacht, als er mein verdutztes Gesicht sieht. «Es war unmöglich, Fragen zu stellen und den Lehrern fehlte die Zeit, auf die Schüler einzugehen.» Am meisten interessierte er sich für Mathematik und Englisch. Beide Interessen hat er beibehalten.
49 Sprachen und mehr als 200 verschiedene Dialekte werden in Afghanistan gesprochen. Offizielle Landessprachen sind Persisch (Dari) und Paschto. Daneben lernen die Kinder Englisch und Arabisch. Nach den obligatorischen neun Schuljahren hat man die Wahl zwischen Universität oder Arbeit, wobei es keine Berufslehren gibt, wie sie in der Schweiz existieren. . Wer Geld verdienen will, sucht sich eben einfach einen Job. Viele junge Leute würden gerne studieren, doch die Zulassungsprüfungen für die Universitäten sind streng und die Arbeitslosenrate hoch.
Afghanistan ist ein zerrüttetes Land. Nach zwei Jahrzehnten Krieg ist die Wirtschaft weitgehend zerstört. Der bewaffnete Konflikt, in dem die nationalen Sicherheitskräfte – unterstützt von den internationalen Streitkräften der Nato – gegen die Taliban und rund zwanzig regierungsfeindliche Gruppierungen kämpfen, ist noch immer in Gang. Nicht nur die Taliban und regierungsfeindlichen Gruppierungen, sondern auch die Regierung setzten Gewalt ein. Folter und Hinrichtung ziehen keine Konsequenzen nach sich. Oft sind Zivilistinnen und Zivilisten Opfer dieses Terrors. Die Sicherheitslage ist katastrophal. Vielen Personen droht Gefahr, weil die Konfliktparteien sie wegen zum Teil rein vermuteter Kollaboration mit der einen oder anderen Seite verfolgen. Bombenanschläge, Explosionen, Schüsse und die ständige Präsenz des Todes sind Alltag geworden.
Einfach nur weg
«Es gibt dort keine Zukunft für junge Menschen, keine Hoffnung», sagt Amir. «Niemand weiss, ob er am Abend lebend zurückkehrt. Diese ständige Unsicherheit macht dich kaputt.» Amir spricht ruhig und ohne jeden Hass in der Stimme. Geduldig erklärt er mir die komplexen Zusammenhänge eines Konflikts, der lange Zeit sein Leben prägte.
Amir hatte im Fernsehen die Berichte über Flüchtlinge gesehen. Er wusste, wie gefährlich eine Flucht war, und dass viele nie weiterkamen als an die eigene Landesgrenze. Er hatte Angst, aber: «Ich sah keinen anderen Ausweg, als zu flüchten. Also bin ich gegangen. Wohin, wusste ich nicht. Ich wollte einfach nur weg.»
Mit einem Schlepper gelangt Amir über die Grenze nach Pakistan. Unterwegs wird die Gruppe von den Taliban angehalten. «Ich dachte kurz: Jetzt ist alles aus», sagt er und noch jetzt ist ihm die Angst ins Gesicht geschrieben. Doch der Schlepper schafft es, mit den Terrormilizen verhandeln und die Gruppe kann weiterreisen.
Von Pakistan geht es in den Iran und von dort über die Balkanroute in die Türkei. In einem Gummiboot überquert er das Mittelmeer nach Griechenland, von wo aus er nach Österreich geschleust wird und schlussendlich in der Schweiz landet. Seine Reise dauert ungefähr zwei Monate. Er verliert jegliches Zeitgefühl, hat weder eine Uhr noch ein Handy bei sich.
Unterwegs hört er von der Schweiz und dass das Asylverfahren hier nur sechs Monate daure. Das ist der Grund, wieso er sich entscheidet, hierhin zu kommen und nicht nach Deutschland oder Schweden zu gehen. Als er ankommt, musst er bald einmal feststellen, dass die Information falsch war. Sein Asylverfahren ist bis heute nicht abgeschlossen.
Von einem Zentrum ins nächste
Aufgrund der oft langwierigen Asylverfahren und der ständigen Unsicherheit, ob man nun bleiben darf oder nicht, ob man sich nun integrieren soll oder nicht, werden viele Flüchtlinge psychisch krank. Hinzu kommt die Untätigkeit: Sie können nichts machen ausser warten.
Amir kommt ins Erstaufnahmezentrum in Kreuzlingen. Dort bleibt er nur einige Wochen, danach wird er dem Kanton Bern zugeteilt. Er wird von einem Flüchtlingszentrum ins nächste geschickt; die Situation ist sehr schwierig für ihn. In diesen Zentren sind viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Nationen untergebracht. Es ist oft laut, jeder hat seinen eigenen Schlafrhythmus. Er hat keinen Rückzugsort, keine Privatsphäre.
Zum ersten Mal bereut er, geflüchtet zu sein. Er möchte wieder zurück zu seiner Familie.
Amirs Blick ist in die Ferne gerichtet. Mit seinen Gedanken ist er an einem Ort, zu dem ich keinen Zugang habe. Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, was er durchmachen musste. Ein Ruck geht durch seinen Körper und er spricht hastig weiter. «Nein, nein, ich gehe nicht zurück, ich kann nicht zurück.»
Als er 18 wird, bewirbt er sich für eine WG und kann endlich das Flüchtlingszentrum hinter sich lassen. Auch die Lehrstelle, für die er sich bewirbt, bekommt er. «Weil es für einmal nicht auf den Status ankam, sondern auf die Qualifikation», jetzt lacht er wieder.
Momentan ist Amir im zweiten Jahr seiner Lehre als Mechanik-Praktiker an der Technischen Fachhochschule in Biel. Auch wenn dies nicht sein Traumberuf ist, so ist er doch sehr froh, eine Ausbildung machen zu können. Sein Ziel ist es, so schnell wie möglich unabhängig zu werden, und nicht mehr von der Sozialhilfe leben zu müssen.
Nicht zu viel nachdenken
«Ich habe in der Schweiz Menschen getroffen, die dachten, ich wäre geflüchtet, um hier viel Geld zu verdienen. Diese Menschen haben leider keine Ahnung. Ich wollte mein Land nicht verlassen. Aber stell dir vor, du könntest nicht einmal von Worb nach Bern reisen, weil du jeden Moment erschossen werden könntest. Niemand will so leben, niemand.»
Ein Ende der Gewaltspirale ist nicht in Sicht, im Gegenteil. Laut Amnesty International hat sich die Lage in den letzten drei Jahren noch verschlimmert. Mit seiner Familie ist Amir immer noch in Kontakt.
Ob es ihn nicht sehr belaste, nicht zu wissen, ob er bleiben dürfe oder nicht, will ich wissen. Er probiere, nicht zu viel darüber nachzudenken, sagt er. Und dass es toll sei, dass er etwas lernen könne. Es ist bewundernswert, wie motiviert er ist und mit welch positiver und zuversichtlichen Einstellung er durchs Leben geht.
Auch die Sprache wolle er noch besser lernen, sagt er. Sein Deutsch ist ausgesprochen gut, er versteht alles, was ich sage. Er hat viele Freunde gefunden, geht regelmässig Fussballspielen und hilft im Projekt «Voll Dabei» mit. Das Projekt der Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not richtet sich an junge Erwachsene, die als unbegleitete Minderjährige in der Schweiz um Schutz ersuchten und kürzlich die Volljährigkeit erreicht haben. Ziel der Projektaktivitäten ist es, den Teilnehmenden einen Anschluss an die Gesellschaft als mitgestaltende Personen zu ermöglichen, damit sie sich selbständig für ihre Interessen und Anliegen einzusetzen lernen. Amir, der letztes Jahr schon mit dabei war, steht den neuen Teilnehmenden, die nun mit denselben Herausforderungen konfrontiert werden, beratend zur Seite. Seine höfliche und entgegenkommende Art wird auch hier sehr geschätzt, die Leute mögen ihn.
Sein Denken hat sich sehr verändert, seit er hier lebt. Amir fühlt sich sogar schon ein bisschen zuhause in der Schweiz. Er ist freier. «Und deshalb denke ich, dass dort, wo man sicher und gut leben kann, Zuhause oder eben Heimat ist»,beendet er seine Erzählungen.
Fünf Wochen später treffe ich ihn wieder. Es ist Nationaler Flüchtlingstag und wir gehen zusammen an eine Demonstration mit dem Motto «Zwischen uns keine Grenzen». Zusammen mit hunderten anderer Menschen demonstrieren wir gegen Ausgrenzung und Ausschaffung, Asylunterkünfte, die Gefängnissen gleichen, Repression und Polizeigewalt. Mit Transparenten und Plakaten marschieren wir durch die Stadt bis vor das Bundeshaus, fordern ein humaneres Asylverfahren, echtes Asylrecht, Bewegungsfreiheit und ein würdiges Leben für Alle. In Afghanistan wird sich durch unsere Demonstration nichts verändern. Die Todesstrafe wird noch immer vollzogen, unzählige Kinder, die ihre Eltern durch den Konflikt verloren haben, leben auf der Strasse und auch in diesem Moment sieht sich eine weitere Familie gezwungen zu fliehen. Aber wir setzen ein Zeichen. Wir fordern die Menschen in der Schweiz auf, die Situation der Flüchtlinge wahr und ernst zu nehmen und sich auf das Wichtigste zu besinnen, das wir haben: Menschenrechte.
*Name geändert
1 Staatssekretariat für Migration: https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/aktuell/news/2018/ref_2018-04-30.html