© Zoé Kammermann
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Vier Begegnungen, vier Geschichten Aria. Syrien – Schweiz: 2824,71 km

Von Zoé Kammermann. 26. November 2018
Aria verbrachte sechzehn Jahre ihres Lebens in Syrien. Bis sich die Familie auf Grund ihrer kurdischen Wurzeln plötzlich gezwungen sah zu fliehen. Jetzt ist Aria 19, und schulisch immer noch nicht weiter als da, wo sie vor drei Jahren stand. Denn um den Bildungsgang wieder aufzunehmen, musste sie zuerst eine neue Sprache lernen. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, brachte sie sich Deutsch kurzerhand selber bei – mit YouTube Videos.

Wenn Aria von Qamischli spricht, schwingt Heimweh in ihrer Stimme mit. Der Schmerz über den Verlust ihres alten Lebens ist ihr deutlich anzusehen.

Qamischli ist eine multiethnische Stadt im Nordosten Syriens, direkt an der Grenze zur Türkei. Jahrzehntelang lebten christliche, muslimische und jüdische, kurdische, arabische Bewohnerinnen und Bewohner mit zahlreichen weiteren ethnischen und religiösen Minderheiten friedlich nebeneinander. Kirchen standen neben Moscheen, die koschere Metzgerei lag gleich neben der kurdischen Bäckerei und in den Kleidergeschäften hingen Kippas neben Burkas. Die Mentalität war offen, das Zusammenleben friedlich.

In Qamischli lebte Aria mit ihren Eltern und ihren vier Brüdern. Ihr Vater ist gelernter Ingenieur, ihre Mutter Primarschullehrerin. Aria besuchte die Schule bis zur 10. Klasse. Danach wollte sie an die Universität, Medizin studieren. Aber der Krieg kam ihr dazwischen.

Aria ist klein, hat einen kaffeebraunen Teint und schulterlanges schwarzes Haar. Aus ihren grossen Augen spricht Melancholie und Resignation. Sie hat geschwungene Lippen und ein schönes Lachen, das aber nur selten zum Zug kommt.

«Was ich zu Beginn sagen möchte ist, dass alles, was ich sage, nur meine Sicht der Dinge, meine Meinung ist. Man darf nicht die Ansichten eines Einzelnen verallgemeinern.»

«Man darf nicht» und «man soll» werde ich während unseres Gespräches noch einige Male zu hören bekommen. Ich vermutete, diese hohe Moral sei religiös bedingt. Doch ich sollte mich täuschen, wie sich später herausstellte.

Ein Land in Schutt und Asche

Als der Konflikt in Syrien begann, war Aria noch ein Kind. Anfangs dachte noch niemand an Krieg. Auch Aria nahm mit ihrer Familie an friedlichen Demonstrationen teil. Dann kamen die Bomben. Was zuerst angsteinflössend war, wurde bald Alltag. «Ich weiss noch: Einmal während einer Mathematiklektion schlug eine Bombe ganz in der Nähe der Schule ein» erinnert sich Aria. «Es gab eine riesige Explosion und wir sassen alle wie versteinert auf unseren Plätzen. Der Lehrer aber sagte bloss, wir sollen weiterarbeiten.»

Kein anderes Land ist so oft in den Medien wie Syrien. Eine Schlagzeile jagt die andere: «Bombenhagel auf Aleppo», «Rakka in Schutt und Asche», «Die Überreste von Homs».

Ermutigt vom «arabischen Frühling», hatten viele Syrerinnen und Syrer 2011 in friedlichen Massendemonstrationen mehr Freiheit gefordert. Die Antwort des Assad-Regimes auf diese Forderung kam prompt, brutal und vernichtend. Massenverhaftungen und systematische Folter erstickten das Aufbegehren der Bevölkerung im Keim. Die Folge war ein blutiger Krieg, der bis heute andauert. Im Verlaufe des Konfliktes bildeten sich verschiedene Gruppen und Untergruppen, die unterschiedliche Ziele verfolgen. Unterstützt werden sie von Grossmächten, die eigene ethno-religiöse, wirtschaftliche und geopolitische Interessen verfolgen. Hundertausende unschuldiger Menschen verloren ihr Leben, Millionen verliessen das Land als Flüchtlinge. Schlichtungsversuche des Uno-Sicherheitsrates scheitern regelmässig. Niemand kann sagen, was am Ende von den Traditionen und Kulturen übrigbleibt, die das Land über Jahrhunderte weg geprägt haben.

Auch nachdem sich der Konflikt zuspitzte, gingen die Kinder weiterhin zur Schule, ansonsten durften sie die Häuser aber nicht mehr verlassen. In der Schule wurde al-Assad als der beste, einzige und wahre Präsident und Herrscher Syriens glorifiziert. Das Fach Geschichte beschränkte sich ausschliesslich auf Syrien, Weltgeschichte wurde nicht thematisiert. «Der Gewinner schreibt die Geschichte», sagt Aria. «Über allem lag der Filter des syrischen Regimes. Deshalb glaube ich gar nicht an das, was ich dort gelernt habe. Das waren nur Lügen.» Sie sieht mich fast trotzig an.

In der Schule wurde Religion unterrichtet, aber nie in radikalisierter Form. Vorbildliche Charaktereigenschaften hätten im Islam einen hohen Stellenwert und sind unverzichtbarer Bestandteil des Glaubens und der religiösen Überzeugung, sagt Aria.  Laut ihr hätten die Menschen in Europa durch die Medien ein falsches Bild des Islams vermittelt bekommen. «Ich habe in Europa mehr islamische Extremisten getroffen als in Syrien. Und weisst du, wieso? Wenn man Menschen mit Vorurteilen begegnet, fällt es diesen schwer, sich zu integrieren. Hinzu kommt, dass die Ausbildung, die sie gemacht haben, hier nichts wert ist. Sie haben alles verloren, sind weit weg von ihrer Heimat, oftmals ohne Familie und Freunde und das einzige, woran sie sich halten können, ist die Religion. Also klammern sie sich daran. Es ist das letzte Stückchen Identität, das ihnen geblieben ist.» In Arias Stimme klingt Vorwurf mit. Ich kann es ihr nicht verübeln.

Wut auf die Doppelmoral

Dann, eines Tages, beschlossen ihre Eltern wegzugehen. Der Islamische Staat IS wurde immer stärker und hatte schon grosse Teile des Landes unter Kontrolle. Als Kurdinnen und Kurden lebte die Familie in der ständigen Angst, von den Truppen der Gotteskämpfer aufgespürt und getötet zu werden. Der älteste Sohn der Familie war schon vor Ausbruch des Krieges als Medizinstudent nach Deutschland gegangen und hatte beschlossen, gleich dort zu bleiben.

Arias Familie hatte das grosse Glück, dass eine Tante bereits in der Schweiz lebte. Mit ihrer Hilfe bekamen sie ein Visum und konnten ohne weitere Komplikationen direkt nach Zürich fliegen, von wo aus sie in ein Erstaufnahmezentrum kamen. «Ich hatte keine Erwartungen an die Schweiz. Wenn man flüchtet, ist es egal wohin, einfach weg.»

Ihre Freundinnen und Freunde sind inzwischen über die ganze Welt verstreut. Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen. Und während Europa mit der einen Hand die unantastbaren Menschenrechte hochhält, schickt es mit der andren weiterhin Waffen in den Krieg. Welche Doppelmoral! Arias Stimme überschlägt sich fast: «Ohne Waffen gibt es keinen Krieg! Wie würden Menschen einander töten, mit dem Messer? Wohl kaum!» Sie schnaubt verächtlich. «Ich bin mir sicher, der IS kann keine Waffen herstellen, die Leute sind gar nicht gut genug ausgebildet. Die Schuld liegt bei den Mächten, die diesen Krieg unterstützen und auch noch davon profitieren! Die Zivilisten, die sind die Opfer.»

Nach drei Wochen wurden Aria und ihre Familie nach Saanen geschickt, wo sie ein Jahr lang bleiben mussten. Aria erinnert sich nicht gerne an diese Zeit. Die Familie wurde quasi zwangsisoliert, denn die ihr zugeteilte Wohnung lag so abgelegen, dass sie nicht einmal Nachbarn hatten. Arias älterer Bruder konnte an der Fachhochschule sein Studium weiterführen, die zwei jüngeren Brüder durften in die Schule gehen.

Selber Deutsch gelernt

Aria war zu diesem Zeitpunkt gerade sechzehn geworden. Sie war zu alt für die Schule und zu jung, um zu arbeiten. Sie durfte, laut den Behörden, gar nichts machen. Es war schrecklich deprimierend für sie, zu sehen, wie alle rundherum ihr Leben in die eigenen Hände nahmen. Und sie konnte nichts anderes tun, als zuhause darauf zu warten, älter zu werden. Mit ihren Eltern, die ebenfalls nichts machen konnten, besuchte sie einmal pro Woche einen Deutschkurs. Doch das war zu wenig, um die Sprache auch nur annähernd zu lernen. Aus purer Verzweiflung begann sie, sich selber Deutsch beizubringen. Mit YouTube-Videos lernte sie Wort für Wort Grammatik, Satzaufbau und Falllehre. Und das ziemlich erfolgreich. Aria hatte ihr Ziel nicht aus den Augen verloren: Medizin zu studieren.

Als sie dann doch endlich in die Schule gehen durfte, wollte sie nur so schnell wie möglich ins Gymnasium. Mithilfe eines Lehrers holte sie nach, was sie verpasst hatte. «Er war der Einzige, der an mich glaubte. Er sagte mit immer: ˈAria, ich weiss, dass du es schaffen kannst.ˈ»

Ehrgeizig und willensstark wie sie ist, schaffte sie tatsächlich den Übertritt ins Gymnasium. Jetzt ist sie gerade mit dem zweiten Jahr fertig. «Die Menschen in der Schweiz sind sehr selbstbewusst, denn sie werden in der Schule über alles aufgeklärt. Man ist selbständig und bekommt genug Informationen, um sich eine eigene Meinung zu bilden. In Syrien bekommt man die Meinung, nicht die Informationen vorgesetzt.» Die Gesellschaft in Syrien sei offener, sagt sie, aber die Moral sei strenger. Respekt gegenüber LehrerInnen, Eltern und älteren Menschen sei sehr wichtig.

Arias Eltern sind gläubig. Aria selbst nicht sonderlich. Die Eltern lassen ihr die Freiheit, selber zu entscheiden, ob und an was sie glauben will.

Aufs Ausländerin-Sein reduziert

Das Asylverfahren in der Schweiz findet Aria gut, die Integration eher weniger. «Wenn man nicht gerade zu Schweizern nach Hause eingeladen wird und ihre gesellschaftlichen Normen und Regeln lernen kann, wie soll man sich dann integrieren? Meine Eltern kennen die Werte und Normen nur über meine Erzählungen aus der Schule. Man erwartet von Flüchtlingen sich zu integrieren, aber wie soll das gehen ohne Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung?» Sie sieht mich an, ohne eine Antwort zu erwarten. Denn die Antwort ist offensichtlich: Integration kann so nicht funktionieren. Nicht nur ihre Eltern, auch sie fühlt sich in der Schweiz nicht zuhause. Immer auf ihren Status als Ausländerin reduziert, sei es ihr unmöglich, sich als Teil dieser Gesellschaft zu fühlen. «Ich muss mich zuhause fühlen können, um glücklich zu sein. Deshalb werde ich wohl weggehen.» Das zu hören, lässt mich einmal mehr die Einstellung unserer Gesellschaft gegenüber Migrantinnen und Migranten hinterfragen.