Farahnaz und Qodrat warten am Bahnhof auf mich, als ich in Mülenen («Halt auf Verlangen») aus dem Zug steige. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie auf Hoch- oder Schweizerdeutsch ansprechen soll, doch bevor ich noch etwas sagen kann, begrüssen mich die beiden in breitestem Berndeutsch. Ich bin ˈbaffˈ. Das wird nicht das einzige Mal bleiben, dass ich während unseres Treffens überrascht werde.
Wir spazieren durch grüne Wiesen und an schmucken kleinen Holzhäuschen vorbei und stehen schliesslich vor einem grossen Gebäude, das aussieht wie eine Lagerhalle. Es ist das Postgebäude von Mülenen. Eine steile Eisentreppe an der Aussenseite führt nach oben.
Ich ziehe meine Schuhe vor der Tür aus und trete ein. Die Wohnung ist hell, sauber und aufgeräumt. An den Wänden hängen neben einem Familienfoto ein paar Albert Anker Bilder.
Die Mutter, Banu Hashemi, lädt mich ein, Platz zu nehmen. Sie ist klein und elegant gekleidet, ihre grossen, dunkel umschatteten Augen sehen mich freundlich, aber zurückhaltend an. Nach und nach erscheint der Rest der Familie. Alle sechs Kinder wohnen noch zuhause. «Wenn einer fehlt, fühlt es sich leer an», sagt Farahnaz. «Wir sind halt nicht so eine grosse Familie.» Meint sie das ernst? Ich muss wohl leicht irritiert dreingeschaut haben, denn sie lacht und erklärt: «In Afghanistan sind die Familien viel grösser als hier, sechs Kinder ist wenig.»
Feysal (23) ist der Älteste, Zahra (21) die Zweitälteste, gefolgt von Qudrat (18), Farahnaz (16), Mahmod (14) und Erfan (12). Während des Gesprächs wechseln die Familienmitglieder sich dabei ab, mir ihre Geschichte zu erzählen. Einmal sitze ich mit Banu und Zahra auf dem Sofa, eine halbe Stunde später sind Mahmod und Qodrat dazu gekommen und abermals 30 Minuten später sitzt mir Feysal gegenüber. Stück für Stück erfahre ich die Geschichte der Familie. Es ist eine Geschichte, die mich sehr berührt, die schwierig in ein Porträt einzufangen ist.
Familie Hashemi lebte in Herat, der zweitgrössten Stadt Afghanistans, an der Grenze zum Iran. Herat liegt an der Seidenstrasse und war lange Zeit Zentrum der persisch-muslimischen Kulturwelt, von welcher auch heute noch viele historische Bauwerke zeugen. Doch Krieg und Verwahrlosung forderten in den vergangenen Jahren ihren Tribut. Die Infrastruktur der Stadt liegt in Trümmern, das einst rege Treiben auf dem Markt ist versiegt. Das traditionelle Gewerbe Herats, das Spinnen von Seide, ist nun nicht mehr als ein Relikt vergangener Zeiten.
Flucht aus Herat
Farahnaz ist erst sechzehn, wirkt aber viel reifer und erwachsener. Sie hat einen dunkeln Teint, die langen schwarzen Haare hat sie zu einem Knoten zusammengebunden. Ihrem wachsamen Blick entgeht nichts. Sie spricht schnell, ist mit den Gedanken immer schon einen Schritt weiter. Farahnaz strahlt ein ungewöhnliches Selbstvertrauen aus und scheint sehr genau zu wissen, was sie will und was nicht.
«Wir waren nicht arm und nicht reich. Wir waren zufrieden mit dem, was wir hatten. Vor fünf Jahren hätte ich mir nie vorstellen können, dass ich mal hier mit dir sitzen würde, um über mein Leben zu sprechen.» Farahnaz sieht mich an, als könnte sie es immer noch nicht ganz glauben, dass sich ihr Leben so drastisch verändert hat.
Nach dem plötzlichen Tod des Vaters, dessen Ursache bis heute ungeklärt ist, veränderte sich alles. Ich spüre, wie tief die Trauer um seinen Verlust noch sitzt, und frage nicht weiter nach. Als alleinerziehende Mutter und ohne männliches Familienoberhaupt ist ein Leben in Afghanistan schwierig – und gefährlich. Korruption ist in allen Teilen der Wirtschaft und des Staates verbreitet. Frauen, Kinder, ethnische, religiöse Minderheiten und andere Gruppen sind zudem spezifischen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt.
Zwangsrekrutierung von Minderjährigen, die bei alle Konfliktparteien vorkommen, stellt laut Amnesty International eine grosse Gefahr für Kinder im rekrutierungsfähigen Alter dar. Wer sich widersetzt, bringt sich und seine Familie in Gefahr, getötet oder bestraft zu werden. Die Taliban zwingen Frauen, in der Öffentlichkeit eine Burka zu tragen, verbieten ihnen zu arbeiten und verweigern Mädchen den Schulzugang. Als Kind trug Farahnaz die Haare deshalb raspelkurz und zog Jungenkleider an. Nur so konnte sie ungestört draussen spielen.
Mutter Banu durfte nicht arbeiten, wollte aber auch nicht von einem männlichen Verwandten abhängig sein. So beschloss sie, mit ihren sechs Kindern zu fliehen. Der Jüngste, Erfan, war gerade mal vierjährig, als sie in einer Nacht und Nebel Aktion die Grenze zum Iran überquerten.
Weiterwandern
Afghanistan und Iran verbindet mehr als nur dieselbe Sprache. Vor noch nicht allzu langer Zeit waren diese beiden Länder ein grosses Königreich: Persien. AfghanInnen und IranerInnen haben dieselben Vorfahren, ihre Kultur den gleichen Ursprung. Nichtsdestotrotz werden Afghaninnen und Afghanen im Iran wie Dreck behandelt. Die Bevölkerung des Irans ist grösstenteils schiitisch. Als Angehörige des sunnitischen Glaubens hatte die Familie keine Chance auf Asylrecht. Als illegale Eingewanderte lebten sie versteckt, immer in der Angst, aufgespürt und zurückgeschickt zu werden. Banu und Feysal arbeiteten in der Fabrik, in der die ganze Familie Unterschupf gefunden hatte. Zahra und Qodrat passten auf die jüngeren Geschwister auf. Zur Schule gehen konnten sie nicht. Im Iran hatten sie genauso wenig eine Zukunft wie in Afghanistan. Mit dem Unterschied, dass sie hier, rein rechtlich gesehen, nicht einmal existierten.
Nach zweieinhalb Jahren brach die Familie abermals auf. Mithilfe von Schleppern gelangten sie in die Türkei, von wo aus sie in einem Gummiboot das Mittelmeer überquerten. «Du weisst nicht, ob du in der nächsten Sekunde noch am Leben sein wirst. Es ist stockdunkel, rund herum nur die endlose Weite des Meers. Wir hatten schreckliche Angst. Niemand von uns konnte schwimmen», schildert Farahnaz die Überfahrt. Farahnaz und ihre Familie erreichten die sichere Küste von Griechenland. Schmutzig, mit kaputten Kleidern und ohne Schuhe wurden sie an Land gespült. Sie hatten alles verloren, ausser einer kleinen Tasche mit einem Koran und einem Foto des Vaters. Mahmod war krank geworden und musste dringend ins Spital. Alle hatten Hunger. «Da waren Menschen, die uns Essen gaben», erzählt Farahnaz. «Es war irgendetwas Undefinierbares und schmeckte eklig. Aber in dem Moment wurde mir klar: Wenn du leben willst, musst du essen.»
Die Schweiz: Ein fremder Planet
Als sie nach einer vierjährigen Odyssee die Schweiz erreichten, war es, als seien sie auf einem fremden Planeten gelandet. Dokumente und Papiere hatten sie im Mittelmeer verloren, weshalb jetzt die ganze siebenköpfige Familie offiziell am 1.1. Geburtstag hat.
Nach 15 Tagen in einem Erstaufnahmezentrum, wurden sie dem Kanton Bern zugeteilt und landeten in Interlaken. Zu siebt teilten sie sich ein Zimmer, die Küche wurde von zehn Familien benutzt. Sie hatten Glück und fanden schnell eine Wohnung – in Mülenen, dem Dorf am Fusse des Niesens.
Feysal arbeitet gleich nebenan in einer Autowerkstatt. In Afghanistan war er Schneider für Abendkleider gewesen. Auf seinem Handy zeigt er mir stolz und ein bisschen wehmütig Bilder von perlenbestickten, bodenlangen Kleidern. Seinen neuen Job, der so gar nichts mit dem alten gemein hat, findet er okay. Besser als nichts. Feysal ist kräftig, er trägt eine Brille und die Haare hat er zum Manbun hochgesteilt. Überhaupt legt er viel Wert auf ein gepflegtes Äusseres. Seine ruhige, gutmütige Art ist extrem liebenswürdig. Für die Jüngeren übernimmt er ein bisschen die väterliche Rolle. Er knuddelt mit Erfan, tadelt Mahmod, kocht Tee für alle und bietet mir Gebäck und Datteln an.
Sobald die Familie in ihrem neuen Zuhause eingezogen war, konnten die Kinder in die Schule gehen. Sie waren die einzigen AusländerInnen und sprachen kein Wort Deutsch. Die feine, emotionale Zahra hat auch jetzt noch ein bisschen Mühe mit der Sprache. Für sie und Farahnaz war es ausserdem das erste Mal, dass sie mit Jungs zur Schule gingen – und kein Kopftuch trugen. Das Kopftuch war für sie wie Hosen: ohne fühlten sie sich nackt. Inzwischen haben sie sich daran gewöhnt. Farahnaz meint sogar: «Wieso ist das Kopftuch so wichtig? Ich kann auch an Gott glauben, ohne mich zu verhüllen. Ich meine, seien wir mal ehrlich, Adam und Eva, die ersten Menschen überhaupt, waren nackt!» Ich muss laut loslachen. Ihre direkte, unverblümte Art gefällt mir.
Auch Qodrat hat sich nun wieder zu uns gesetzt. Er ist ein paar Zentimeter grösser als Farahnaz und viel ruhiger. Seine schwarze Brille verleiht ihm einen intellektuellen Touch, was zu seiner besonnen Art und der sorgfältigen Wortwahl passt. Geduldig erklärt er mir das Asylverfahren. Familie Hashemi hat Asylstatus F. «In zwei Jahren bekommen wir B, inscha‘allah.» Qodrat besucht das Gymnasium in Thun mit dem Schwerpunkt Biochemie. Er interessiert sich für Humanmedizin, alternative Bildungsmethoden und Religionen. Nach der Matur will er studieren und Lehrer werden.
Der Glaube an Gott ist wichtig für die Familie. Banu Hashemi betet fünfmal pro Tag, Schweinefleisch wird nicht gegessen und Alkohol ist ein Tabu. Zum Zeitpunkt unseres Treffens beginnt gerade der Ramadan, der Fastenmonat der Muslime und Musliminnen. Qodrat und Farahnaz sind überzeugt, dass es Gottes Wille ist, dass sie hier sind. Allah habe kein Geschlecht, er werde nicht personifiziert, sei einzigartig. «Allah ist ein zentrales Thema in meinem Leben. Glaube ist wichtig. Aber Religion macht in meinen Augen keinen Sinn. Religion ist für die Massen, Glaube ist individuell», sagt Qodrat und rückt seine Brille zurecht. Im Moment hätten sie mehr Kontakt mit Schiitinnen und Schiiten als mit Sunnitinnen und Sunniten, erzählt er weiter. Es gehe nicht so sehr um die Religion, sondern um den Menschen, die Persönlichkeit, den Charakter.
Unterstützung durch eine Schweizer Familie
Zuerst war alles sehr befremdlich für die Familie. Die Sprache musste gelernt, die Sitten und Normen mussten verinnerlicht werden. Unterstützt wurden sie vor allem von einer Schweizer Familie, deren Bekanntschaft sie im Flüchtlingszentrum in Interlaken gemacht hatten und mit der sie auch heute noch eine enge Freundschaft pflegen.
Mahmod und Erfan, die Jüngsten der Familie, haben sich am schnellsten in der neuen Umgebung eingelebt. Erfan spricht inzwischen besser Deutsch als Persisch. Er ist klein, hat grosse Augen, einen grossen Mund und wenn er lacht, lacht er aus vollem Hals. Er ist unglaublich frech und lustig und hat eine köstliche Mimik. Seiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, ebenso wenig seiner Energie. Der zwei Jahre ältere Mahmod scheint sich für nichts Anderes zu interessieren als für Fussball. Er ist gross und schlaksig, trägt eine Brille und hat immer ein cooles Grinsen im Gesicht. Mahmod fühlt sich nicht als Schweizer und möchte auch nicht Schweizer sein. Er ist stolz auf seine Herkunft. Er spricht nicht viel, doch als wir auf die Haltung der Schweizer gegenüber MigrantInnen zu sprechen kommen, kann er sich einen Kommentar nicht verkneifen. «Das Klischee stimmt schon, dass Schweizer nicht so ausländerfreundlich sind. Aber jeder Mensch ist ein bisschen Rassist.» Er zuckt halb entschuldigend mit den Schultern.
«Egal wie gut du dich integrierst»
Liegt es daran, dass sich die Familie in der Schweiz noch nicht recht zuhause fühlt? Als Flüchtling hat man in der Schweiz wenig zu sagen, auch dann noch, wenn man perfekt schweizerdeutsch spricht. «Egal wie gut du dich integrierst, in den Augen der Schweizer, Europäer bleibst du Ausländer. Das macht mir immer weniger Lust, mich zu integrieren. Ich will nicht immer nur der Ausländer oder der Flüchtling sein», sagt Qodrat. Ich muss nicht lange nachdenken, um zu erkennen, dass er Recht hat. Ich schäme mich ein bisschen. «Du siehst nicht so aus wie sie und hast Migrationshintergrund; du bist ganz offensichtlich anders», sagt Farahnaz und lacht traurig. Sie vermisse Afghanistan, sagt sie, und dass sie manchmal weine. Sie alle haben sich verändert und angepasst, um akzeptiert zu werden.
Wie stark sie sich doch integriert haben, zeigt sich daran, dass sie teilweise fehlerfrei Berndeutsch sprechen, alle entweder arbeiten oder zur Schule gehen, dass sie unsere Werte und Normen kennen und nicht zuletzt daran, dass wir uns so offen unterhalten können.
«Eigentlich fühle ich mich nirgends zuhause», bricht Farahnaz die entstandene Stille. Es tut mir weh, das zu hören. «Ich mich auch nicht», sagt Qodrat. «Aber ich will mich zuhause fühlen. Ich will nicht irgendwer irgendwo sein.»
Zwei Wochen später stehe ich am Bahnhof und warte auf die Familie Hashemi. Ich habe sie zum Abendessen eingeladen. Ich will meiner Familie zeigen, welch tolle Menschen ich kennen lernen durfte. Und ich will mich bei Familie Hashemi für ihre Offenheit und Gastfreundschaft bedanken. Ein bisschen aufgeregt bin ich schon. Findet man ein unverfängliches Gesprächsthema? Gibt es ein Spiel, bei dem es nicht irgendwie darum geht, andere zu besiegen? Und könnten wir gemeinsam schwimmen gehen, ohne dass schlimme Erinnerungen hochkommen? Meine Ängste sind vollkommen unbegründet. Auch wenn wir alle in das eine oder andere Fettnäpfchen treten, so ist doch ein gelungener Abend. Wir begegnen uns mit Offenheit, Respekt und aufrichtigem Interesse, und das ist es doch, was zählt.
Fastenbrechen
Abermals zwei Wochen später. Es ist das Ende des Fastenmonats Ramadan und meine Familie und ich sind bei Hashemis zum Fest des Fastenbrechens (Id-ul Fitr) eingeladen. Aus dem einmaligen Interview-Treffen hat sich eine Freundschaft entwickelt. Es herrscht festliche Stimmung. Die Mädchen tragen lange, mit Goldfäden und Perlen bestickte Kleider, die Jungs haben eine traditionelle Kurta (bis zu den Knien reichendes Baumwollhemd) und die dazu passende Hose angezogen. Auch für mich haben sie ein traditionelles afghanisches Kleid. Es ist schwarz mit bunten Handstickereien im Brustbereich und fällt weich und angenehm um meinen Körper. Zum Schluss bekomme ich noch ein lockeres Kopftuch. Als ich mir im Spiegel gegenüberstehe, erkenne ich mich kaum wieder. Kleider machen Leute. Einzig die blonden Haare verraten meine Herkunft.
In der Wohnung der Familie schwirrt es wie in einem Bienenstock. Ein grosses Tuch wird auf dem Boden ausgebreitet, Teller und Schüsseln werden hineingetragen und aufgetischt. Es duftet köstlich nach exotischen Gewürzen und orientalischen Köstlichkeiten. Neben Schüsseln mit Reis und Fladenbrot stehen Linsengerichte, Okra, Fleischstücke in Tomatensauce, Auberginen an Joghurt und weitere Gerichte, deren Namen ich nicht aussprechen kann. Wir sitzen im Schneidersitz am Boden und essen mit den Händen. Zum Trinken gibt es Dugh, ein afghanisches Joghurtgetränk mit Gurke. Was für Hashemis normal ist, ist nun für meine Familie und mich befremdlich, neu, anders. Und wir geniessen es in vollen Zügen!
Nach dem Essen wird getanzt. Wir halten uns an den Händen, klatschen und feuern uns gegenseitig an. Die afghanische Musik fährt einem in die Beine, es ist unmöglich, still zu halten. Wir tanzen, bis wir ausser Atem sind. So fühlt sich Lebensfreude an!
Familie Hashemi hat einen langen Weg hinter sich. Nichtsdestotrotz habe ich noch selten so lebenslustige, aufgestellte Menschen getroffen, wie sie es sind! Ihre Offenheit und Grosszügigkeit haben mich zutiefst beeindruckt und das Zusammensein mit ihnen war eine grosse Bereicherung.