Ich lernte Makeda an einem Essen für Einheimische und Flüchtlinge kennen. Sie fiel mir sofort auf, weil sie im Vergleich zu den anderen eritreischen Frauen, die anwesend waren, sehr offen und interessiert mit mir zu sprechen begann. Das gefiel mir und ich wollte sie besser kennen lernen. Am Ende des Abends fragte ich sie also, ob sie Lust hätte, mir ihre Geschichte zu erzählen. Nach einigem Zögern sagte sie zu. Eine Woche später trafen wir uns wieder.
Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt. Bei unserer ersten Begegnung trug sie das krause Haar offen. Nun hing es ihr in kleinen Zöpfchen geflochten bis zu den Hüften. Diese Frisur liess sie noch zierlicher erscheinen, als sie es ohnehin schon ist. «Eigentlich bin ich sehr schüchtern», sagte sie. Ihr hübsches Gesicht sah mich mit einer Mischung aus Neugierde und Misstrauen an. Im Verlaufe unseres Gesprächs verlor sie ihr Misstrauen, nicht aber ihre Zurückhaltung. Es kostete sie grosse Überwindung, die teils traumatischen Erlebnisse Revue passieren zu lassen. Mehr als einmal brach sie mitten in der Erzählung ab. Wir sind fast gleich alt, doch unsere Leben sind so anders verlaufen, dass sie mir um Jahre älter erscheint. In den paar Stunden, die wir gemeinsam verbrachten, liess sie mich teilhaben an ihren Erinnerungen und nahm mich mit auf eine Reise, die sie für immer prägte.
Selbständigkeit ist ein Fremdwort
Eritrea ist ein kleiner Staat im nordöstlichen Afrika. Dort, wo er ans Rote Meer grenzt, gleicht die Landschaft einer wüstenartigen Trockensavanne. Im Hochland des Landesinnern ist die Vegetation üppiger, da es von Zeit zu Zeit regnet. In Eritrea leben neun grössere ethnische Gruppen. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist unter 14-jährig.
Makeda lebte mit ihrer Mutter und ihren acht Geschwistern in einer Stadt im Osten Eritreas. Ihren Eltern gehörte ein Schuhladen, in dem auch sie ab und zu mithalf. Als ältestes der sieben Mädchen musste sie aber vor allem die Rolle der Mutter übernehmen, wenn diese im Laden war. Sie kochte, putzte, passte auf. Nebenbei ging sie zur Schule. Aber sie lernte nichts.
«Weisst du, in Eritrea ist der Unterricht anders als hier. Dort macht der Lehrer 80 Prozent und die Schüler 20 Prozent. Hier ist es gerade umgekehrt.» Selbständigkeit ist ein Fremdwort im eritreischen Bildungssystem.
Makedas Vater war fast nie zuhause, da er – wie so viele – Nationaldienst leisten musste. Die meisten jungen Eritreer würden ihren Vater nicht kennen, erzählt sie mir. In ihrer Stimme schwingt Wut mit.
Die Regierung Eritreas, die sich aus dem Präsidenten, dem hohem Parteikader und Militärangehörigen zusammensetzt, gilt als äusserst repressives Regime. Es gibt keinerlei Gewaltentrennung, das Land verfügt weder über eine Verfassung, noch über vom Parlament verabschiedete Gesetzte. Medienfreiheit ist ein Fremdwort und wer den Präsidenten oder das Regime kritisiert, wird ohne Anklage inhaftiert. Der Hauptgrund für die Flucht vieler eritreischer Menschen ist der unbefristete «Nationaldienst», den sowohl Frauen, als auch Männer zwischen 18 und 48 absolvieren müssen. Seine Dauer wird völlig willkürlich gehandhabt. Wer sich widersetzt, wird verfolgt, inhaftiert, gefoltert, getötet oder in ein Arbeitslager verfrachtet. Die Einberufenen müssen in einem Programm zum nationalen Wiederaufbau schuften, da während dem Krieg gegen Äthiopien, der 2002 sein Ende nahm, grosse Teile des Landes zerstört wurden. Der Lohn beträgt 300 Nakfa, umgerechnet 20 Franken pro Monat. Es ist unmöglich, mit diesem Gehalt zu leben, geschweige denn, eine Familie zu ernähren.
Traumatische Flucht
Der Exodus der Jugend Eritreas dauert schon so lange. Inzwischen hat die Regierung eingeführt, dass SchülerInnen der Oberstufe ihr letztes Schuljahr in einer Militärbasis absolvieren müssen. Damit sollen sie an der Flucht gehindert werden. Die ständige Überwachung lastet wie Blei auf der Bevölkerung, die Angst ist omnipräsent.
Makedas Familie wollte nicht, dass sie geht. Also ging sie unbemerkt. Das war ohnehin besser, denn Mitwissen hätte alle nur noch mehr gefährdet. Mit einer kleinen Gruppe überquerte sie zu Fuss die Grenze zu Äthiopien. «Ich hatte wahnsinnige Angst. Die Meisten werden von der Polizei gefunden und zurückgebracht. Ich wollte eigentlich wieder zurück, aber da war es schon zu spät.» Wer einmal das Land verlässt, kann nicht zurück. Makeda lebte vier Monate in Adis Abeba, danach kam sie für zwei Monate in ein Flüchtlingscamp.
Von dort flüchtete sie weiter in den Sudan. Zu Fuss, mit einem Schlepper und anderen Flüchtlingen überquerte sie die Grenze. Flüchtlinge sind den Schleppern hilflos ausgeliefert, denn nur diese kennen die Route. «Es war stockdunkel und er schlug uns. Der Weg war voller Löcher, unsere Kleider rissen ein, es war einfach schrecklich.» Ihre Stimme versagt. Tränen treten ihr in die Augen. Als sie sich wieder gefasst hat, spricht sie weiter.
Im Sudan traf sie ihren Bruder wieder, der Eritrea schon vor ihr verlassen hatte. Gemeinsam machten sie sich auf nach Libyen. Mit einem Schlepper durchquerten sie die Wüste. Auf dem Auto quetschten sich 25 Personen zusammen, manche sassen auf dem Dach. Ein paar fielen runter vor Erschöpfung – das Auto fuhr weiter. Der Wind war heiss wie Feuer und voller Sandkörner. Atmen wurde schwierig. Alles brannte, es hatte zu wenig Wasser.
Dann holte der Fahrer sie nach vorne. Sie solle ihn berühren, verlangte er. «Ich sagte: ˈNein, lieber sterbe ich.ˈ Er sagte, er töte mich, wenn ich nicht täte, was er sage.» Ihre Augen funkeln empört. Gleichzeitig steht ihr die Angst auch jetzt noch ins Gesicht geschrieben. Sie hatte Glück und entkam ihm. Der Fahrer suchte sich an diesem Abend ein anderes Mädchen aus. Sexuelle Belästigung, Ausbeutung und Gewalt erfahren viele Frauen auf der Flucht.
In einem Boot überquerten sie das Mittelmeer und erreichten Italien, wo sie gleich in ein Camp verfrachtet wurden. «Ich war so unendlich froh, als wir endlich in Europa waren.» Makeda lächelt. Sie erreichte die Schweiz Anfang Juli 2015. Ihr Bruder ging nach Deutschland. Nach einem Monat im Erstaufnahmezentrum in Basel kam sie nach Belp. Nach abermals sechs Monaten, konnte sie in eine WG für unbegleitete minderjährige Asylsuchende ziehen, in der ausschliesslich Frauen lebten. Ihre Augen strahlen, als sie von den Leuten dort erzählt: «Wir waren eine grosse Familie, ich war sehr zufrieden dort.»
Unfairer Aufenthaltsstatus
Leider musste sie schon bald wieder ausziehen, denn sie wurde 18 Jahre alt und erlangte die Volljährigkeit. Um sich besser integrieren zu können, zog sie bei einer Schweizer Familie ein. «Ich wollte das unbedingt, weisst du. Aber es ging nicht. Es wurde mir alles zu viel und ich wurde sehr krank.» Makeda zog noch zweimal um. Jetzt lebt sie seit zwei Monaten in einer Frauen-WG.
Diesen Sommer hat Makeda die BFF-Schule in Bern abgeschlossen, wo sie das 10. Schuljahr besucht hat. Nun beginnt sie eine Lehre als Kinderbetreuerin. Seit ihrer Ankunft vor drei Jahren hat sie Aufenthaltsstatus F (vorläufig aufgenommen). Das heisst: Sie bekommt ein sehr geringes Budget zum Leben, darf die Schweiz nicht verlassen, hatte grosse Probleme, eine Lehrstelle zu finden und weiss noch immer nicht, ob sie bleiben darf.
Eritrea ist das Hauptherkunftsland von Asylsuchenden in der Schweiz. Doch eine Wehrdienstverweigerung reicht in der Schweiz nicht für eine Anerkennung als Flüchtling. Nur wenn daraus eine asylrelevante Verfolgung resultiert, haben die DeserteurInnen eine Chance auf ein Bleiberecht. Eine Zwangsrückführung ist allerdings nicht möglich, da Eritrea nur freiwillige Rückkehrer und Rückkehrerinnen zurücknimmt. Etwa ein Fünftel der Eritreerinnen und Eritreer lebt im Ausland.
«Diese Status-Sache macht mich wütend. Ich könnte F akzeptieren, wenn allen dieselben Bedingungen gestellt würden. Aber so ist es doch total unfair! Meine Freundin bekam nach drei Jahren einen negativen Entscheid. Gleichzeitig kenne ich jemanden, der erst seit drei Monaten in der Schweiz ist und schon endgültig aufgenommen wurde. Wer macht diese Gesetze? Wer entscheidet so über das Schicksal eines Menschen?» Eine Träne rinnt ihr über die Backe. Sie wischt sie nicht weg.
Den Kontakt mit ihrer Familie zu behalten, ist schwierig: Es gibt dort kein Internet und telefonieren ist zu teuer. Deshalb kann Makeda nur einmal pro Monat sehr kurz anrufen.
Ihre jüngere Schwester ist jetzt gerade 18 geworden – und will weg. Nach allem, was Makeda erlebt hat, und weil sie nicht will, dass ihr etwas zustösst, rät sie ihr davon ab zu fliehen. Aber sie weiss genau, dass ihre Worte ins Leere gehen. Ein trauriges Lächeln huscht über ihre Lippen. «Weisst du, man weiss, dass viele Leute sterben. Mein Bruder wusste es, ich wusste es und auch meine Schwester weiss es. Wir kommen trotzdem.»
*Name geändert