In der Schweiz werden Personen, deren Asylgesuch abgelehnt worden ist, von der Sozialhilfe ausgeschlossen und erhalten nur noch Nothilfe. Diesen Zustand kritisieren auch psychiatrisch-psychotherapeutische Fachpersonen in einem offenen Brief an die politisch Verantwortlichen und die Vollzugsstellen.
Gemäss Staatssekretariat für Migration besteht das Ziel dieser Massnahme darin, «die betroffenen Personen zur Ausreise aus der Schweiz zu bewegen». Für die Gewährleistung der Nothilfe sind die Kantone zuständig, was zu grossen Unterschieden in ihrer Ausgestaltung führt.
Vielen ist die Ausreise zudem gar nicht möglich, etwa weil sie keine heimatlichen Reisepapiere erhalten können, aufgrund gesundheitlicher Probleme, fehlender Rücknahmeübereinkommen, weil der Zielstaat bei einer Ausschaffung ihre Aufnahme verweigern würde oder weil sie Menschenrechtsverletzungen im Heimatland befürchten, die aber nicht zur Gewährung eines Schutzstatus ausgereicht haben. Sie harren in der unmenschlichen Nothilfe aus oder tauchen unter. Sie leben in dem paradoxen Zustand der «regulären Illegalität». Einerseits erhalten sie eine notdürftige Unterkunft und je nach kantonaler Regelung einen geringen finanziellen Beitrag. Andererseits können sie bei jeder Ausweiskontrolle wegen illegaler Anwesenheit gebüsst oder gar inhaftiert werden.
Unwürdige Unterbringung – gerade für Frauen und Kinder
Nothilfe-Bezüger*innen werden nicht selten in unterirdischen Zivilschutzanlagen oder in Containern untergebracht und erhalten je nach Kanton Nahrungsmittel oder ein wenig Geld (zwischen 8 und 12 Franken pro Tag), um sich zu kaufen, was es zum Überleben braucht. Selbst schwangere Frauen und Frauen mit Säuglingen hausen dabei in Unterkünften, die jede Form von Privatsphäre verunmöglichen. Im Kanton Bern werden Familien pro zusätzliche Person jeweils 50 Rappen von den 8 Franken abgezogen. Gemäss dieser Regel erhalten Familien einen kleineren Nothilfebetrag pro Person als Einzelpersonen. Dies macht wenig Sinn, da die materiellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen oft grösser sind als diejenigen der Erwachsenen.
Gemäss den Statistiken ist jede vierte nothilfebeziehende Person minderjährig. Die Infrastruktur und die Lebensbedingungen in den mehrheitlich von Männern bewohnten Nothilfezentren sind ausserdem selten den besonderen Bedürfnissen von Frauen angepasst, etwa bezüglich Sicherheit, Gesundheit, Hygiene oder Kinderbetreuung. Das Gesetz sieht zwar vor, dass «besonders verletzliche Personen» anders behandelt werden sollen, doch wer als solche gilt, wird nicht klar umschrieben.
Etwas mehr als ein Drittel der abgewiesenen Asylsuchenden in der Schweiz sind seit mindestens einem Jahr vom Nothilfesystem abhängig. Viele von ihnen leben sogar fünf, zehn oder 15 Jahre unter diesen Bedingungen – darunter auch Kinder. Die prekären Bedingungen machen insbesondere Langzeitbeziehende psychisch krank.
Verletzung von Grundrechten und Abkommen
Die Art und Weise, wie die Nothilfe in der Schweiz eingesetzt wird, verletzt verschiedene Grundrechte und verschiedene internationale Abkommen, die die Schweiz ratifiziert hat. Die Schweiz wurde schon von diversen internationalen Menschenrechtsgremien kritisiert. So monierten der Uno-Antirassismusausschuss und der Uno-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, dass den Nothilfebeziehenden in der Schweiz der Zugang zu medizinischer Versorgung und die Möglichkeit auf einen angemessenen Lebensstandard verwehrt bleiben.
Amnesty International Schweiz, die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, die Schweizerische Flüchtlingshilfe und Solidarité sans frontières haben im 2011 eine Kampagne lanciert und gefordert das Nothilfesystem von Grund auf zu überdenken. Besonders verletzliche Personen wie alleinstehende Frauen, Schwangere, unbegleitete Minderjährige, Familien mit Kindern, kranke und traumatisierte Menschen sollten nicht aus der Sozialhilfe ausgeschlossen werden dürfen.
Keine Verbesserung der Situation
In einem Bericht vom Dezember 2021 äussern sich Fachpersonen aus der Medizin, Psychiatrie und Psychologie kritisch zu den psychischen Gesundheitsfolgen des Nothilfesystems. Ausgrenzung, Eingrenzung, Isolation, sowohl geografische wie soziale, konsequente Verweigerung jeder Teilhabe am gesellschaftlichen Leben seien zentrale Pfeiler der Zermürbungsstrategie. Die unmittelbare physische und soziale Umwelt, in der die abgewiesenen Asylsuchenden leben müssen, seien durch die Erfahrung einer schwer erträglichen realen Umwelt gekennzeichnet: eine Architektur des Provisorischen, der Einbunkerung und Abschottung und / oder der Vernachlässigung. Räumliche Verhältnisse, die auf Massierung und dem Mangel an Privatsphäre gründen sowie die Mischung aus Reizentzug und Reizüberflutung (Tage-, ja wochenlange Monotonie und Langeweile wechselt plötzlich ab mit Lärm, Streit, chaotischen Situationen) zermürbe die Menschen, die monate- und jahrelang diesen Bedingungen ausgesetzt sind. Das Leiden der Nothilfe-Bezüger*innen wird durch die Konzentration von Risikofaktoren materieller, sozialer und psychischer Art verstärkt und bereits bestehende psychische Probleme kumulieren sich. Folge davon können psychosomatische Beschwerden, schwere psychische Krankheiten und eine erhöhte Suizidalität sein.
In einem offenen Brief an die politisch Verantwortlichen und die Vollzugsstellen forderten zudem am 16. Februar 2022 zahlreiche psychiatrisch-psychotherapeutische Fachpersonen eine humane Behandlung und die Verbesserung der Situation von abgewiesenen Asylsuchenden in der Schweiz. Die Unterzeichnenden verlangen unter anderem Deckung des Grundbedarfs statt Nothilfe; die Unterbringung der Betroffenen in Wohnungen und Wohngemeinschaften oder privaten Unterbringungen; die sofortige Aufhebung aller unbegründeten Ein- und Ausgrenzungen; der Verzicht auf willkürliche Verhaftungen und wiederkehrende Haft- und Geldstrafen für den Tatbestand des illegalen Aufenthaltes; die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wie Bildungsmöglichkeiten, Beschäftigung und Tagesstruktur, kulturelle und Freizeitangebote sowie die Gewährleistung der medizinischen und psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung und Zugang zu psychosozialen Dienstleistungen. Ein besonderes Augenmerk gelte dabei der Wahrung der Kinderrechte gemäss Uno-Kinderrechtskonvention.
Zwischen Mai und August 2021 besuchte die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) die Rückkehrzentren Aarwangen, Biel und Gampelen im Kanton Bern. Auch sie äussert sich in ihrem Bericht und gemäss Medienmitteilung vom 10. Februar 2022 besorgt über Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in den Rückkehrzentren in Kanton Bern. «Nach Beurteilung der Kommission sind diese Verhältnisse nicht mit der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar», sagt die Kommissionspräsidentin Regula Mader. Sie verletzen das Recht von Kindern auf angemessene Lebensbedingungen (Artikel 27) und das Recht auf Ruhe und Freizeit sowie auf Spiel und altersgemässe aktive Erholung (Artikel 31).
Aus den Gesprächen mit Frauen in den drei Rückkehrzentren sei hervorgegangen, dass sie sich in den Gemeinschaftsbereichen der Unterkunft, vor allem nachts, nicht sicher fühlen. Toiletten und Duschen seien nicht in allen Zentren klar nach Geschlechtern getrennt oder ungenügend geschützt.
Das Recht auf Hilfe in Not
Das Recht auf Hilfe in Not ist in Artikel 12 der Bundesverfassung geregelt: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.» Gemäss der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Uno-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte umfasst ein angemessener Lebensstandard zumindest ein soziales Existenzminimum, wozu angemessene Kleidung und Ernährung, menschenwürdige Behausung sowie ärztliche Betreuung gehören. Hinzu kommt auch das Recht auf Schulbildung.
Diese Regel, die ursprünglich dem Gedanken der Humanität verpflichtet war, wird in der Praxis des Nothilferegimes um ihren Sinn gebracht und zu einem System verdreht, das die Betroffenen herabsetzt und entwürdigt. Sinnlose bürokratische Schikanen machen den Alltag in der Nothilfe zu einem Spiessrutenlauf. Hinzu kommen zum Teil massive Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, etwa durch das Verbot, gewisse Gebiete nicht zu verlassen oder zu betreten.
Das Nothilferegime ist ein System, das zu sozialer Isolation, zahlreichen behördlichen Schikanen und zu einem Leben in Ungewissheit führt und die Betroffenen so an einem Leben in Würde hindert. Die Zustände in der Nothilfe sind besonders für als verletzlich geltende Personen schwer zu ertragen. So leiden Ältere und Traumatisierte, alleinerziehende oder schwangere Frauen und unbegleitete Minderjährige besonders stark unter den schwierigen Lebensbedingungen. Anderseits ist es zweifelhaft, ob die Nothilfe die bezweckte abschreckende Wirkung hat.
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humanrights.ch: