© Amnesty International
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Jahrestreffen Netzwerk Asyl und Migration Zivilgesellschaft unter Druck: Strategien gegen die Aushöhlung des Asylrechts

22. Januar 2024
Aktivist*innen und Fachpersonen haben am Jahrestreffen des Netzwerks Asyl und Migration von Amnesty Schweiz über die Herausforderungen des freiwilligen Engagements im Asylbereich diskutiert. Der Fokus lag einerseits auf den zunehmenden Angriffen auf das Asylrecht und andererseits auf dem Schutz von besonders verletzlichen Personen, wie unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA), Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt und LGBTI*-Personen.

Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz, erinnerte in der Eröffnungsrede an die rund 30’000 Menschen, die in den vergangenen zehn Jahren beim Versuch nach Europa zu gelangen, gestorben sind. Umso wichtiger sei es, jenen, die es bis in ein Land der Europäische Union oder gar in die Schweiz geschafft haben, Sicherheit und Unterstützung zu gewähren. Sie unterstrich die Bedeutung des Engagements von zivilgesellschaftlichen Organisationen angesichts des zunehmend ausländerfeindlichen Diskurses und der daraus resultierenden Repressionen im Asylrecht in Europa und der Schweiz.

Eine weitere Abschottung und Aushöhlung des Flüchtlingsschutzes wird mit dem Inkrafttreten des EU-Paktes zu Asyl und Migration erwartet. Doch bereits heute hat die Repression in der Asylpolitik schwere Folgen für Geflüchtete. Mangelnde Chancen zur Aufnahme und Integration drängen viele Menschen, die bereits von der Flucht traumatisiert sind, an den Rand, in die Anonymität oder in die Hände von Kriminellen.

«Aktivismus muss radikaler werden»

Der Aktivismus gegen die Aushöhlung des Flüchtlingsrechts und die Abschottung müsse radikaler werden, forderte Sophie Guignard von Solidarité sans Frontières SOSF an der Podiumsdiskussion: «Der Wind hat schon lange gedreht und er weht von rechts. Das Frontex-Referendum hat gezeigt, dass wir als Zivilgesellschaft zu wenig stark gemeinsam agiert haben – angesichts des neuen EU-Pakts zu Asyl und Migration müssen wir uns besser einigen».

Auch Pierre Bühler, emeritierter Professor für systematische Theologie an den Unis Neuenburg und Zürich, sprach sich für ein dezidiertes Eintreten für die Rechte von Geflüchteten aus – entgegen der Zurückhaltung in vielen Kirchenleitungen, die wegen des Gegenwinds aus der Politikstill geworden seien. Es gelte, «das Asyl zurück in die Kirchen zu bringen».

Angesichts der Tausenden von Toten an der EU-Aussengrenze ist in den Kirchen unter anderem ein Manifest gegen den europäischen Asylpakt geplant. Auch Möglichkeiten einer Volkinitiative oder eines Referendums, etwa gegen die Beteiligung der Schweiz an der EU-Abschottungspolitik oder für neue Resettlement-Plätze, müssten geprüft werden, forderten mehrere Podiums-Teilnehmende – selbst auf die Gefahr hin, eine Abstimmung zu verlieren.

Diskursrahmen und Tonalität bestimmen

Die Zivilgesellschaft müsse den Diskursrahmen mitbestimmen und versuchen, die Tonalität der Debatte umzudrehen, sagte Stefan Schlegel, Wissenschafter und ab dem 1. Februar Direktor der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution. Es müsse verhindert werden, dass sich die «Grenze des Sagbaren» in Medien und Öffentlichkeit weiter gegen rechts verschiebe. «Es sind die Ruanda-, Abschiebe- und Auslagerungspläne, die naiv und realitätsfremd sind», sagte Schlegel.

Europa stehle sich aus der Verantwortung, indem Menschen zunehmend in «Niemandsländer und Zwischenräume» abgeschoben würden. Es sei Aufgabe von Zivilgesellschaft und Wissenschaft, der drohenden systematischen Auslagerung und Inhaftierung an der EU-Aussengrenze entgegenzuwirken.

Auch das disfunktionale Dublinsystem, welches Menschen in die Illegalität und in andere europäische Staaten dränge, müsse demaskiert werden. Michael Meyer, der das Dublin-Team von Asylex leitet, betonte gleichzeitig die Wichtigkeit der Einzelfallarbeit und der Vernetzung, die zu vielen Erfolgen und positiven Veränderungen für Geflüchtete geführt hätten. «Aktivismus muss nicht damit beginnen, das ganze EU-Asylsystem ändern zu wollen. Einzelnen Familien zu helfen ist an sich wertvoll», sagte Meyer.

Geflüchteten eine Stimme geben

«Viele Menschen kennen die Realitäten Geflüchteter nicht, man muss sich beweisen, dass man Schutz verdient, und du  wirklich verfolgt bist. Du fühlst dich unerwünscht, von Beginn weg, abhängig von System und Behörden, eingegrenzt in der Wahl eines Berufs oder Wohnorts», erläuterte Tahmina Taghiyeva, Journalistin, Aktivistin und Projektleiterin bei Brava für das Projekt «Stimmen geflüchteter Frauen».

«Es kostet so viel Kraft und es gibt so viele intelligente, begabte Menschen, die aufgeben», sagte sie. Sie rief die Anwesenden am Netzwerktreffen dazu auf, Verständnis für die Lebensrealitäten von Geflüchteten zu schaffen und sie sprechen zu lassen. «Wir wollen gleichberechtigt behandelt werden», forderte Taghiyeva.

Mehr Bilder vom Netzwerktreffen

An vier Workshops wurde am Nachmittag in Biel über Herausforderungen für das zivilgesellschaftliche Engagement im Asylbereich, den Schutz vor genderspezifischer Gewalt an geflüchteten Frauen, die anstehende Amnesty-Kampagne zu Unbegleiteten Minderjährigen Asylsuchenden und über das Diskretionserfordernis für LGBTI*-Personen diskutiert.

Rund 90 Personen – darunter Aktivist*innen, Geflüchtete, Fachpersonen und Vertreter*innen von NGO, Kirchen und Wissenschaft entwickelten am Jahrestreffen des Netzwerks neue Strategien und Handlungsmöglichkeiten für das Jahr 2024.