Inhalt
Was sind die Dublin-Verordnung und die Souveränitätsklausel?
Wie wird die Souveränitätsklausel in der Schweiz angewendet?
Weshalb sollte die Schweiz die Souveränitätsklausel häufiger anwenden?
- Die Schweiz wird nicht von Asylgesuchen überschwemmt
- Im internationalen Vergleich wendet die Schweiz das Dublin-Abkommen am striktesten an
- Die Praxis der Schweiz ist auf aus humanitärer und finanzieller Sicht inkohärent und kostspielig
- Die Schweizer Behörden berücksichtigen die individuelle Situation von Flüchtlingen zu wenig
- Durch ihre strikte und zügige Anwendung der Dublin-Verordnung vernachlässigt die Schweiz die Menschenrechte
Was sind die Dublin-Verordnung und die Souveränitätsklausel?
Als Hauptpfeiler der europäischen Flüchtlingspolitik legt die Dublin-Verordnung fest, welcher Staat für die Behandlung eines Asylgesuches zuständig ist. In den meisten Fällen ist dies das Ersteinreiseland in Europa. Die Dublin-Verordnung enthält jedoch auch ein sogenanntes Selbsteintrittsrecht, bekannt als «Souveränitätsklausel». Diese bestimmt, dass «die Mitgliedstaaten insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abweichen können, um Familienangehörige, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, und einen bei ihm oder einem anderen Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn sie für eine solche Prüfung nach den in dieser Verordnung festgelegten verbindlichen Zuständigkeitskriterien nicht zuständig sind» (Art 17 der Dublin-Verordnung). Die Präambel des Abkommens führt zudem die Gründe für die Anwendung dieser Klausel auf: Wichtig festzuhalten ist, dass jeder EU-Mitgliedsstaat von den Zuständigkeitskriterien abweichen kann, wenn humanitäre Gründe oder Härtefälle vorliegen.
Wie wird die Souveränitätsklausel in der Schweiz angewendet?
Zwischen dem 1. Januar 2014 und dem 30. November 2016 hat die Schweiz in Anwendung der Souveränitätsklausel Gesuche von 4790 Personen bearbeitet, für die sie nicht unbedingt zuständig gewesen wäre. Statistische Angaben zu den Gründen für die Behandlung dieser Gesuche und zu den Profilen der betroffenen Personen fehlen. Die Praxis des Staatssekretariats für Migration (SEM) ist völlig undurchsichtig und die Kriterien für die Anwendung der Ermessensklausel sind nicht transparent. Im Vergleich dazu wurden im gleichen Zeitraum die Gesuche von 46‘575 Personen nach Massgabe des Dublin-Verfahrens in Bearbeitung genommen. Auf zehn Personen im Dublin-Verfahren entfällt somit nur eine Person, bei welcher die Schweizer Behörden die Souveränitätsklausel anrufen.
* Gemäss der Antwort des Bundesrates vom 15. Februar 2017 auf die Interpellation «Dublin-Fälle und Selbsteintrittsrecht. Welche humanitären Gründe werden von der Schweiz berücksichtigt?», am 15. Dezember 2016 von der Ständerätin Liliane Maury-Pasquier eingereicht.
Weshalb sollte die Schweiz die Souveränitätsklausel häufiger anwenden?
1) Die Schweiz wird nicht von Asylgesuchen überschwemmt
Auf die Schweiz entfallen immer weniger der in Europa eingereichten Asylgesuche: Während 2013 noch 4,8 Prozent aller Asylgesuche in Europa in der Schweiz eingereicht wurden, waren es 2016 nur noch 2 Prozent. Während der vergangenen fünf Jahre hat sich die Zahl der in der Schweiz eingereichten Asylgesuche mit jeweils 20‘000 bis 30‘000 jährlichen Gesuchen als relativ stabil erwiesen. Nur im Jahr 2015 waren es im Zuge der bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak mehr (39‘523 Gesuche). Nach Abschluss des EU-Türkei-Migrationsabkommens und der Schliessung der Balkanroute ist die Zahl der in der Schweiz eingereichten Asylgesuche 2016 gesunken (27'207 Gesuche) und dürfte 2017 weiter abnehmen (das SEM rechnet mit 24'500 Asylgesuchen). Derzeit machen Personen aus dem Asylbereich (inkl. Personen mit einer B- oder C-Bewilligung) 1,4 Prozent der Bevölkerung aus.
2) Im internationalen Vergleich wendet die Schweiz das Dublin-Abkommen am striktesten an
Die Schweiz ist dasjenige Land in Europa, das am meisten von der Dublin-Verordnung profitiert. Zwischen 2009 und 2016 hat unser Land 25’898 Personen in einen anderen europäischen Staat rücküberführt, im Gegenzug aber nur 4443 Personen aus anderen Staaten übernommen.
Im Jahr 2016 führte die Schweiz die Liste der «Gewinnerländer» des Dublin-Systems an: Während sie 3750 Personen in andere europäische Länder überführte, hat sie von anderen Ländern nur 469 Personen übernommen. Deutschland und Schweden haben die Schweiz hinsichtlich der Anzahl Dublin-Rücküberführungen im vergangenen Jahr überholt, gleichzeitig haben diese beiden Länder sich jedoch bereit erklärt, viele Flüchtlinge aus anderen europäischen Ländern aufzunehmen. So hat Deutschland im Rahmen des Dublin-Systems 3968 Personen überführt, aber 12'091 aufgenommen. Schweden hat 5244 Personen überführt und 3306 übernommen.
Die untenstehende Grafik zeigt die Dublin-«Bilanz» für das Jahr 2016 (Anzahl übernommene Personen minus Anzahl rücküberführter Personen): Positive Zahlen bedeuten, dass die betreffenden Länder mehr Personen übernommen als rücküberführt haben. Das ist bei Deutschland der Fall, das noch vor Italien, Polen, Spanien, Bulgarien und Ungarn steht. Negative Zahlen hingegen zeigen, welche Länder vom Dublin-System profitiert haben, d.h. welche Länder mehr Personen rücküberführt als übernommen haben. Es handelt sich dabei in erster Linie um die Schweiz, gefolgt von Österreich, Schweden und Griechenland.
3) Die Praxis der Schweiz ist auf aus humanitärer und finanzieller Sicht inkohärent und kostspielig
Mit einer Hand nimmt man und mit der anderen schiebt man zurück
Während des Jahres 2016 und bis Ende Mai 2017 hat die Schweiz 1977 Personen nach Italien rücküberführt. Im gleichen Zeitraum hat sie im Rahmen des Dublin-Systems lediglich 14 Personen aus diesem Land übernommen. Trotzdem hat der Bundesrat im Herbst 2015 beschlossen, sich am ersten europäischen Programm zur Aufteilung der Asylsuchenden, die auf unserem Kontinent angekommen sind, zu beteiligen. In diesem Zusammenhang hat er seine Bereitschaft zugesagt, 900 Personen aus Italien und 600 Personen aus Griechenland aufzunehmen, um diese beiden Länder zu entlasten. Ende Mai 2017 meldete das SEM, dass bereits 605 Personen aus Italien in die Schweiz eingereist seien. Gesamthaft gesehen hat die Schweiz somit drei Mal mehr Personen rücküberführt, als sie zur Entlastung von Italien aufgenommen hat.
Dies ist eine völlig inkohärente Politik. Gemäss der Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), Simonetta Sommaruga, «hat sich die Schweiz immer bereit gezeigt, sich solidarisch zu engagieren» (Tribune de Genève, 13. Oktober 2016). Die Zahlen zeigen jedoch ein gegenteiliges Bild. Diese Politik hat einen hohen humanitären und finanziellen Preis. Statt dass verletzlichen Personen oder solchen mit Verwandten in der Schweiz ein Bleiberecht in der Schweiz zugestanden würde, werden Ressourcen mobilisiert, um sie zu entwurzeln und nach Italien zurückzuschicken, um im Gegenzug andere Personen aus Italien aufzunehmen, die vielleicht gar keinen Bezug zur Schweiz aufweisen.
4) Die Schweizer Behörden berücksichtigen die individuelle Situation von Flüchtlingen zu wenig
Amnesty International stellt häufig Lücken in den Beurteilungen fest, auf welche das Staatssekretariat für Migration (SEM) und das Bundesverwaltungsgericht ihre Entscheide stützen. Die individuellen Umstände der Asylsuchenden werden nicht ausreichend berücksichtigt. Das führt zu Entscheiden, welche die grundlegenden Menschenrechte der Asylsuchenden verletzen, insbesondere bei verletzlichen Personen.
Nur einfach zu vermuten, ein Zielland werde seine internationalen Pflichten schon einhalten, reicht ausserdem nicht. So geht das SEM beispielsweise von der Annahme aus, dass alle Asylsuchenden in allen Dublin-Staaten Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Konkrete Fälle zeigen jedoch, dass es in zahlreichen Ländern für den unmittelbaren Zugang zu medizinischer Versorgung Hürden gibt, sogar in Staaten wie Norwegen. Die Kinder einer afghanischen Familie, die von den Zuger Behörden nach Norwegen rücküberführt wurden, mussten beispielsweise drei Monate auf eine Zahnbehandlung warten, obwohl diese von den Spezialisten des Zürcher Kinderspitals als äusserst dringlich beurteilt worden war. In Italien müssen die aufgrund der Dublin-Verordnung rücküberführten Personen die Behandlung ihres Asylgesuchs abwarten, bevor sie Zugang zu regulärer medizinischer Versorgung erhalten; zuvor und ab Ankunft wird lediglich eine medizinische Notfallversorgung gewährt.
5) Durch ihre strikte und zügige Anwendung der Dublin-Verordnung vernachlässigt die Schweiz die Menschenrechte
Durch eine übermässig strikte Anwendung der Dublin-Verordnung missachtet die Schweiz die Menschen- und Kinderrechte, das Recht auf Familienleben und das Recht auf medizinische Versorgung. So wird die Dublin-Verordnung sehr zügig angewendet. Beispielsweise haben die betroffenen Personen sehr wenig Zeit für die Einreichung von Ehezeugnissen oder den Nachweis des Fehlens adäquater medizinischer Versorgung in einem anderen Land. Fehlt das Ehezeugnis, weil es auf der Flucht verloren ging, wird die Ehe von den Schweizer Behörden nicht anerkannt. Amnesty International hat es immer wieder mit schockierenden Fällen zu tun: So werden Familien auseinandergerissen, wie beispielsweise im Fall einer Mutter und ihrer beiden Kinder, die nach Italien überstellt wurden, während der Vater der Kinder und Partner der Mutter in der Schweiz Asyl erhalten hatte.
In Italien, wohin die Rücküberführungen aus der Schweiz hauptsächlich erfolgen, ist die Aufnahme von verletzlichen Personen durch die Behörden von viel Willkür geprägt. Die Aufnahmebedingungen entsprechen nicht den gesetzlichen Anforderungen und der Grundsatz der Einheit der Familie wird nicht eingehalten. Weil besondere Garantien – wie z.B. das Recht auf Unterkunft, das Recht auf eine angemessene Behandlung und Betreuung – auch bezüglich des Asylgesuchs fehlen, empfiehlt die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH, von der Überstellung verletzlicher Personen in dieses Land abzusehen. So hat die SFH Personen begleitet, die nach Italien rücküberführt wurden. Dabei musste die SFH feststellen, dass die Empfangsstelle nicht darüber informiert war, dass es sich um eine Familie handelte, und nur auf die Ankunft einer Einzelperson eingestellt war. In anderen Fällen wurde medizinische Betreuung für verletzliche Personen erst auf Intervention der SFH gewährleistet. Diese Beispiele verdeutlichen, dass essentielle Informationen über die besonderen Bedürfnisse der von der Schweiz nach Italien zurückgeschickten Personen den italienischen Behörden nicht korrekt übermittelt worden waren.
Die Schweiz schickt aber auch weiterhin Personen in Länder wie Ungarn zurück, wo vorsätzlich die Menschenrechte der Flüchtlinge missachtet werden, um so Personen davon abzuschrecken, in dem Land überhaupt erst Asyl zu beantragen. Im Jahr 2017 waren es 10 Personen, welche die Schweiz nach Ungarn zurückgeschickt hat. Im April und im Mai 2017 hat das SEM 16 Rücküberstellungsgesuche nach Ungarn gestellt, obwohl dieser Staat im März Massnahmen für die Internierung aller Asylsuchenden (einschliesslich derjenigen Personen, die im Rahmen des Dublin-Systems zurückgeschickt wurden) ergriffen hat. Eine Internierung, die in Containern an der ungarisch-serbischen Grenze und unter schmutzigen Bedingungen, von scharfem Stacheldraht eingezäunt, stattfindet. Die meisten der Asylsuchenden haben keinerlei Chance, in Ungarn Asyl zu erhalten. Zudem werden sie häufig schlecht behandelt und teilweise nach Serbien zurückgeschickt. Die Schweiz ist verpflichtet, alle Personen vor einer Rücküberweisung in ein Land zu schützen, wo die Gefahr besteht, dass ihre Rechte verletzt werden, und sie muss auch sicherstellen, dass keine Person einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wird.
Schliesslich werden das Wohl und die höheren Interessen der Kinder nicht systematisch geschützt. Es vergeht oft viel Zeit zwischen einem Nichteintretensentscheid durch das SEM und dem Datum der Rücküberstellung. Während dieser Periode integrieren sich die Kinder in ihrer neuen Schule und passen sich an ihr neues Leben in der Schweiz an. Voller Hoffnung möchten sie in unserem Land endlich ein stabiles Leben führen, nach all den Traumata, die sie im Krieg und während ihrer gefährlichen Reise nach Europa erleben mussten. Die Schule zu unterbrechen und sich erneut an ein anderes Land, eine weitere Sprache und eine neue Kultur gewöhnen zu müssen, hat auf die ohnehin schon traumatisierten Kinder eine destabilisierende Wirkung in ihrer Entwicklung. Die Unsicherheit im Zusammenhang mit einer möglichen Rücküberstellung trifft somit ganz besonders die Kinder. Die Integrations- und Begleitmassnahmen sind in den Ländern, in die sie rücküberführt werden, oft beschränkt – insbesondere aus finanziellen Gründen. Das Kindeswohl bleibt damit auf der Strecke.