© zvg
© zvg

Einzelschicksale Die Folgen der sturen Anwendung der Dublin-Verordnung

19. Juni 2017
Die Schweiz wendet die Dublin-Verordnung äusserst hart an. Durch Ausschaffungsentscheide werden Familien getrennt, Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen, notwendige medizinische Behandlungen unterbrochen. Drei Einzelschicksale veranschaulichen, welche Konsequenzen die harte Asylpraxis für die Betroffenen hat.
Schwangere Frau vom Ehemann und Kindsvater getrennt

Frau Haidar (Name geändert) wurde von den Schweizer Asylbehörden gestützt auf die Dublin-Verordnung nach Italien überstellt, obschon ihr Ehemann und inzwischen Vater des gemeinsamen Kindes in der Schweiz als Flüchtling anerkannt ist. 

Frau Haidar musste die Flucht aus S. getrennt von ihrem Ehemann antreten. Während Hr. Haidar. in der Schweiz um Asyl ersuchte (und als Flüchtling anerkannt wurde), reichte Frau Haidar im Mai 2016 zuerst in Italien ein Asylgesuch ein. Ende Juli reiste sie in die Schweiz nach, wo sie ebenfalls ein Asylgesuch stellte. 

Die Schweizer Asylbehörden anerkannten die Partnerschaft zwischen Herr und Frau Haidar trotz laufendem zivilrechtlichem Heiratsverfahren und der Schwangerschaft nicht an und verfügten am 10. August 2016 gestützt auf die Dublin-Verordnung die Wegweisung nach Italien. Am 13. Oktober wurde Frau Haidar - inzwischen im 2. Monat schwanger – nach Italien transferiert.

Am Flughafen Malpensa wurde Frau Haidar beschieden, dass sie selber eine Unterkunft suchen müsse. Über ihre Schwangerschaft waren die italienischen Behörden nicht im Bilde, die Kommunikation erfolgte ohne Übersetzung. In der Folge verbrachte Frau Haidar einige Nächte auf der Strasse, bevor sie mit Hilfe einer NGO einen Platz in einem überfüllten Aufnahmezentrum erhielt. Bis sie erstmals medizinische und gynäkologische Hilfe erhielt, dauerte es fast 4 Wochen. Inzwischen ist das Kind zur Welt gekommen, und Hr. Haidar hat die Vaterschaft offiziell anerkannt. Dennoch befindet sich Frau Haidar und das gemeinsame Kind weiterhin getrennt vom Ehemann und Kindsvater in Italien.

Kinder nach zweieinhalb Jahren aus der Schule und medizinischer Behandlung gerissen

Herr und Frau Selimi (Name geändert) ersuchten mit ihren 9-jährigen Zwillingen am 15. Juli 2014 um Asyl in der Schweiz. Weil die Familie italienische Visa besass, ersuchte das Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) am 29. September gestützt auf die Dublin-Verordnung Italien um Rückübernahme. Diesem Ersuchen stimmte Italien erst 17 Monate später, am 9. März 2016, zu. Das SEM verfügte daraufhin die Wegweisung der Familie nach Italien, und das Bundesverwaltungsgericht bestätigte dies mit Entscheid vom 21. September 2016. Am 17. Januar 2017, also fast zweieinhalb Jahre nach der Ankunft in der Schweiz, wurde die Familie – inzwischen hatte Frau Selimi ein drittes Kind zur Welt gebracht - nach Catania auf Sizilien geflogen. Vorgängig befand sich Hr. Selimi während eines Monats in Ausschaffungshaft, die Verhaftung war dabei vor allem für die Kinder ein grosser Schock.

Zum Zeitpunkt des Transfers nach Italien hatten sich die Zwillinge sehr gut an die schweizerischen Gegebenheiten gewöhnt und sprachen bereits deutsch. Der Rückweisungsentscheid bedeutete, dass sie sich erneut in ein für sie neues Umfeld und eine neue Sprache einfügen mussten. 

Das Kleinkind leidet zudem an einem Herzfehler (ASD) und ist zur Vermeidung von Infektionen gemäss ärztlichen Angaben auf eine saubere und nicht überfüllte Unterkunft angewiesen.

Die Flughafenpolizei in Catania wurde vom SEM erst wenige Stunden vor dem Transfer informiert, über die medizinischen Bedürfnisse wusste sie nichts. Somit konnte kurzfristig weder eine geeignete Unterkunft bereit gestellt noch die medizinische Behandlung nahtlos fortgesetzt werden.

Familie bei Dublin-Rückführung getrennt – Eltern in Ausschaffungshaft, Kinder fremdplatziert  

Familie Zardari (Namen geändert) stammt aus Afghanistan; sie lebte während 10 Jahren in Russland, bevor sie sich aufgrund der fortgesetzten fremdenfeindlichen Übergriffe entschloss, Ende 2015 in Norwegen um Asyl zu ersuchen. Nach der Ablehnung ihres Gesuchs reiste die Familie in die Schweiz weiter, wo sie am 30. Mai 2016 ein Asylgesuch einreichte. Das SEM trat auf das Asylgesuch nicht ein und verfügte gestützt auf die Dublin-Verordnung die Wegweisung nach Norwegen, obwohl ein Grossteil der Verwandten von Frau Zardari in der Schweiz lebt, darunter ihre Mutter, ihr Bruder und ihre Schwester. Nachdem Frau Zardari ihr viertes Kind zur Welt gebracht hatte, nahm das zuständige kantonale Migrationsamt den Vollzug der Wegweisung nach Norwegen an die Hand.

Am 4. Oktober wurde die Familie unter dem Vorwand des Transfers in eine neue Unterkunft ins Gefängnis überführt; tags darauf sollte sie den Flug nach Norwegen antreten. Am 5. Oktober um 3 Uhr morgens wurde die Familie aus dem Schlaf gerissen und auf den Flughafen Zürich gefahren. Weil die russischen Identitätspapiere ihrer Kinder fehlten, weigerten sich Herr und Frau Zardari, den Linienflug anzutreten. Das zuständige Migrationsamt ordnete daraufhin Administrativhaft an und verbrachte Herr Zardari und seine Ehefrau mit dem Neugeborenen in zwei verschiedene Gefängnisse. Die Kinder im Alter von 3, 6 und 9 Jahren wurden unter Obhut der Kindes- und Erwachsenen-Schutzbehörde (KESB) an verschiedenen Orten fremdplatziert. Erst nach neun Tagen (!) konnten die Eltern erstmals mit ihren Kindern in Kontakt treten und telefonieren. Nach 20-tägiger Administrativhaft bzw. Fremdplatzierung wurde die Familie schliesslich am 25. Oktober 2016 mittels Spezialflug nach Norwegen ausgeflogen. Die Kinder leiden gemäss norwegischen Ärzten bis heute schwer an der Traumatisierung durch die polizeilich erzwungene Trennung von ihren Eltern.

Mit Urteil vom 25. April 2017 hat das Bundesgericht die von Familie Zardari gegen die Anordnung der Administrativhaft erhobene Beschwerde gutgeheissen. Die Richter hielten darin fest, dass die zuständigen kantonalen Instanzen mit der Inhaftierung und Fremdplatzierung unverhältnismässig vorgegangen sind und durch das in der Europäischen Menschenrechtskonvention statuierte Recht auf Familienleben sowie die Uno-Kinderrechtskonvention verletzt haben. Aus diesem Entscheid ergibt sich indes kein Recht auf Wiedereinreise in die Schweiz, sondern lediglich auf eine finanzielle Entschädigung. Das Urteil ist jedoch auch für andere Kantone bindend und dürfte die Inhaftierung von Familien in Zusammenhang mit Dublin weitgehend verunmöglichen.