Nach unserer Ankunft auf Lesbos waren Haifa und ich überwältigt: Wir hatten kaum den Flughafen verlassen, da blickten wir schon auf das strahlend blaue Meer und einen scheinbar unendlichen Horizont. «Paradiesisch!», war unser erster Gedanke.
«Paradiesisch» – das ist nicht das passende Wort für die Bilder, die wir im Kopf haben, wenn wir an Lesbos denken. Auf der griechischen Insel ereignet sich gerade eine schreckliche Tragödie: Hunderte Flüchtlinge sitzen hier fest und leben unter katastrophalen Bedingungen.
Jede und jeder hat seine eigene Geschichte, alle haben sie aus guten Gründen ihre Heimat verlassen, und alle, die hier sind, haben ihre Würde verloren. Es sind keine Kriminellen, es sind Familien, Mütter, Väter, Aktivisten, Menschenrechtsverteidigerinnen, Lehrer, Künstlerinnen, einfache Arbeiter – kurz: Es sind Menschen. Sie sind geflüchtet vor Krieg, Elend und Verfolgung. Viele von ihnen haben Verwandte und Freunde mit eigenen Augen sterben sehen.
Nun müssen sie Monate unter desolaten Bedingungen in Lagern ausharren, um entweder ausgeschafft oder umgesiedelt zu werden. Grund dafür ist der Flüchtlingsdeal zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Ein politischer Skandal! Niemand darf gefangen gehalten werden, nur weil er oder sie an unsere Rechte und Freiheiten glaubt.
Schmerzen, Hoffnungen und Träume
Wir waren nach Lesbos gereist, um für Amnesty Schweiz am «Refugees Right Action Camp» teilzunehmen. Rund 20 Aktivistinnen und Aktivisten hatten sich bei dem Camp auf der griechischen Insel getroffen, um sich gemeinsam mit Flüchtlingen des Lagers Moria auszutauschen und neue Wege zu finden, die Öffentlichkeit auf die alarmierende Situation auf Lesbos aufmerksam zu machen.
Für diese Aktionswoche war ein dichtes Programm vorgesehen: Workshops zu Aktivismus und öffentlicher Kommunikation, Gespräche mit Geflüchteten und AktivistInnen vor Ort, ausserdem wollten wir eine öffentlichkeitswirksame Aktion auf die Beine stellen.
Insbesondere die Gespräche mit Geflüchteten haben uns tief betroffen. Wir haben Menschen zugehört, die so mutig waren, mit uns ihre Geschichten, ihre Schmerzen, ihre Hoffnungen und ihre Träume zu teilen. Wir fühlten uns ohnmächtig und wütend angesichts dieser tragischen Schicksale, die eine direkte Folge der Politik unserer Heimatländer ist.
Wir fühlten uns ohnmächtig und wütend angesichts dieser tragischen Schicksale, die eine direkte Folge der Politik unserer Heimatländer sind.
Der Austausch mit den Geflüchteten weckte in uns die Entschlossenheit, unser Bestes zu geben, damit diese Menschen zu ihrem Recht kommen und eine Stimme erhalten: Wir wollen ihr Sprachrohr sein. Dazu müssen wir die tragische Situation im Flüchtlingslager Moria, wo mehr als 4000 Menschen unter desolaten Bedingungen eingepfercht sind, bekannt machen.
Die Geflüchteten, die wir im Camp trafen, sind unsere Freunde und Freundinnen geworden, für die wir uns engagieren wollen: Hamid aus Ghana, Ted aus dem Kongo, Oumar aus Guinea, Sohel aus Bangladesch, Osman aus Sierra Leone, Zeid aus Syrien, Fridoon aus Afghanistan… Und die irakischen Zwillinge Rania und Dania, 11 Jahre alt.
Stärke und Widerstandskraft
Besonders berührt hat uns Arash Hampay aus dem Iran, der in den Hungerstreik getreten ist, um auf die Haftbedingungen in Moria aufmerksam zu machen und sich mit anderen Hungerstreikenden zu solidarisieren. Er ist aus seiner Heimat nach Europa geflüchtet, weil der Kontinent vorgibt, die Menschenrechte hochzuhalten und Flüchtlinge zu schützen. Inzwischen würde er lieber in sein Land zurückkehren und dort hingerichtet werden, um so für seine Überzeugungen und humanitären Werte zu sterben, als in Moria eingesperrt zu bleiben und ein unwürdiges Leben zu führen.
Für alle diese Menschen und diejenigen, die wir nie kennen lernen werden, wollten wir eine eindrückliche Aktion veranstalten, um die Menschen in unseren Ländern auf die hier herrschende Realität aufmerksam zu machen. Wir erlebten auf Lesbos aber nicht nur Ohnmacht und Verzweiflung, sondern auch Stärke und unglaubliche Widerstandskraft. Freiwillige und Flüchtlinge retten jeden Tag Leben. Es ist an uns, sie dabei zu unterstützen.
Obwohl die Zustände im Lager nur schwer zu ertragen sind, hat uns die Woche auf Lesbos positiv verändert. Mehr denn je ist uns bewusst geworden, wie wichtig es ist, für eine gerechtere und humanere Migrationspolitik zu kämpfen. Wir müssen unsere Regierungen auffordern, ihre Verantwortung wahrzunehmen und die Menschenrechte zu achten. Dem Elend auf Lesbos und anderswo muss ein Ende gesetzt werden, und diejenigen, die man «Flüchtlinge» nennt, müssen ein Gesicht und eine Stimme erhalten.
Wir haben Menschen kennengelernt, die auf Lesbos eingesperrt sind und zum Schweigen gebracht wurden. Aber ihre Stimmen sind nun auch unsere Stimmen, und wir werden für sie sprechen, weil wir auf dieser Erde alle die gleiche Luft atmen.