Ahmed und seine Familie. © StrickWärme 2017
Ahmed und seine Familie. © StrickWärme 2017

Flüchtlinge in Griechenland Eine Zukunft, für die es sich zu leben lohnt

Von Rashid Abed, 16.11.2017
Die Geschichte von Ahmed und seiner Familie zeigt, mit welchen Herausforderungen Tausende von geflohenen Menschen auf dem Festland in Griechenland tagtäglich konfrontiert sind.

Ahmed ist ein höflicher, junger Mann. Vor wenigen Wochen wurde er 18 Jahre alt. Aber er wirkt reifer, eher Mitte 20. Ahmed stammt aus Aleppo, der nordsyrischen Millionenmetropole, die durch den Bürgerkrieg zu grossen Teilen zerstört wurde. Als ich ihm erzähle, dass ich sein Land und seine Stadt kurz vor dem Krieg besucht habe, ist er begeistert. «Hast du die Zitadelle gesehen? Und den historischen Bazar?», fragt er aufgeregt. Seine Augen leuchten bei der Erinnerung an seine Heimat.

Die Geschichte seiner Flucht ist schrecklich und klingt doch vertraut. Sie ähnelt derjenigen von Hundertausenden. Zusammen mit seinen Eltern und sechs jüngeren Geschwistern floh Ahmed im Juni 2014 in die Türkei. Dort waren sie zwar nicht mehr direkt an Leib und Leben bedroht, aber Perspektiven fanden sie hier auch keine.

Singen auf der Mittelmeer-Überfahrt

Zwei Jahre später war die Verzweiflung der Familie so gross, dass sie sich entschieden, nach Europa überzusetzen. Ahmeds Vater wollte nach Grossbritannien. Obwohl sie genau wussten, dass schon unzählige Menschen bei der Überfahrt nach Griechenland gestorben waren, wagten sie die Reise im August 2016. Die Familie gelangte auf eines der vielen Schlauchboote: Es war eng und überfüllt. Sein Vater sang, um die anderen zu beruhigen. Mindestens 30 Menschen waren auf dem kleinen Boot zusammengepfercht, darunter viele Kinder. Auf der griechischen Insel Chios angelangt, wurden sie im berüchtigten Suda-Camp untergebracht. Hier mussten sie im Winter ausharren, gegen Kälte und Schnee kämpfen. Wieder sassen sie fest. Sollte das die bessere Zukunft in Europa sein?

Als die Familie endlich auf das Festland gebracht werden sollte, fragte man sie, ob sie eine Präferenz habe. Die Familie wünschte sich, nach Athen gebracht zu werden, weil dort Verwandte und Freunde leben. Es folgte eine zwölfstündige Fahrt mit der Fähre, dann eine Busfahrt. Die Familie bekommt eine Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Block zugewiesen. Als Ahmed ihren Standort auf dem Smartphone überprüfte, war er entsetzt: «Wir waren nicht wie versprochen in Athen», sagt er. «Stattdessen waren wir 40 Kilometer südlich von Thessaloniki!» Zunächst glaubten sie an eine Verwechslung, aber bald wussten sie: Mit der Fehlinformation wollte man sie auf der Überfahrt beruhigen. Die Verantwortung dafür spielten sich die Behörden und das UNHCR gegenseitig zu.

«Dann hat es meinem Vater gereicht», sagt Ahmed. Er wollte auf eigene Faust versuchen, sich nach England durchschlagen, um dann die Familie nachholen zu können. Ahmeds Vater schaffte es mit dem Flugzeug nach Holland. Von da ging es über Belgien nach Frankreich, wo er sich im Dschungel von Calais wiederfand. Er blieb vier Monate dort und versucht fast einhundert Mal, sich auf einem der Lastwagen zu verstecken, die auf die britische Insel fahren. Immer wieder wurde er dabei erwischt und zurückgeschickt. Schliesslich gelang es ihm, Grossbritannien zu erreichen. Monatelang lebte er ohne legalen Status in der Nähe von Manchester. Zwar erhielt Ahmeds Vater inzwischen Aufenthaltspapiere; es ist aber offen, ob und wann er seine Familien nachziehen kann.

Keine Integration möglich

In Griechenland gehen die Behörden davon aus, dass in sechs Monaten ein Asylverfahren soweit abgeschlossen ist, dass sich Flüchtlinge wie Ahmed selber versorgen können und eine Wohnung und Arbeit finden. Wie das aber in einem Land mit einer Arbeitslosigkeitsrate von gegenwärtig 21,7 Prozent gehen soll, weiss niemand. Selbst junge Griechinnen und Griechen, die die Sprache beherrschen und gut ausgebildet sind, finden oft keinen Job. Wie viele Asylsuchende von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot auf dem griechischen Festland betroffen sind, ist schwer zu sagen. Die Zahl der auf dem Festland lebenden Flüchtlinge variiert je nach Quelle aktuell zwischen etwa 30'000-50'000.

«Tausenden Flüchtlingen in Griechenland droht, dass sie obdachlos werden, wenn sie in den nächsten Monaten die Lager und Unterkünfte verlassen müssen. Viele werden wohl nach Möglichkeiten suchen, sich illegal nach Westeuropa durchzuschlagen», meint Moritz Reitschuster, Operations Manager der Intereuropean Human Aid Association. «Der griechische Staat wird die Ressourcen kaum aufbringen können, die notwendig wären, um den Asylsuchenden im Land eine würdevolle Existenz zu ermöglichen. Integrationsmassnahmen in Form von Sprachkursen oder Arbeit gibt es kaum. Momentan sieht es auch nicht danach aus, dass der politische Wille dazu bestehen würde.»

«Ich will zurück in ein friedliches Syrien und meiner Familie wieder Sicherheit und eine Zukunft ermöglichen,» sagt Ahmed. «Das wäre mir lieber, als nach England zu gehen.» Als ich Ahmed frage, was er Europas EntscheidungsträgerInnen mitteilen würde, überlegt er kurz und meint dann: «Zwei verschiedene Dinge. Den Menschen möchte ich sagen: ‚Danke, dass ihr uns helft.‘ Den Politikern möchte ich erklären, dass wir Syrer doch niemandem etwas wegnehmen wollen. Wir wollen nur einen Ort, wo wir in Sicherheit leben können, und eine Zukunft, für die es sich zu leben lohnt.»