In dem Bericht «A perfect storm: The failure of European policies in the Central Mediterranean» kommt Amnesty International zu dem Schluss, dass die europäischen Regierungen die Hauptverantwortung für die Seenotrettung Nichtregierungsorganisationen überlassen und zunehmend auf die Kooperation mit der libyschen Küstenwache setzen. Die europäischen Regierungen verschliessen die Augen davor, dass mit diesem Vorgehen Menschen schweren Menschenrechtsverletzungen bis zu Folter und Vergewaltigung ausgesetzt werden – und dass die Zahl der Toten im zentralen Mittelmeer weiter steigt.
Am heutigen EU-Ministertreffen in Tallinn werden neue Vorschläge diskutiert, die die schlechte Situation weiter verschlimmern werden. «Anstatt dafür zu sorgen, dass Leben gerettet und Menschen geschützt werden, setzen die EU-Minister ihre Prioritäten auf rücksichtslose Deals mit Libyen in einem hoffnungslosen Versuch, Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten von den Aussengrenzen der Europäischen Union fernzuhalten», erklärt John Dalhuisen, Direktor für die Region Europa bei Amnesty International.
Kampf gegen Schlepper statt Seenotrettung
«Die europäischen Staaten haben sich von einer Strategie wegbewegt, die darauf abzielte, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, und zu einer hinbewegt, die dazu führt, dass Tausende sterben. Zudem werden verzweifelte Männer, Frauen und Kinder in Libyen ihrem Schicksal überlassen und grauenhaften Übergriffen schutzlos ausgesetzt.»
Die Massnahmen, die EU-Regierungen im April 2015 eingeleitet hatten, um die Seenotrettungskapazitäten zu stärken, führten zu einem erheblichen Rückgang der Ertrunkenenzahlen im zentralen Mittelmeer. Doch diese Prioritätensetzung, bei der einige Staaten mehr Rettungsschiffe in der Nähe der libyschen Hoheitsgewässer zur Verfügung stellten, war nur von kurzer Dauer. Stattdessen konzentrierten die EU-Regierungen sich auf die Behinderung von Schleuseraktivitäten und darauf, das Ablegen von Booten von der libyschen Küste zu verhindern.
Überfahrt wird immer gefährlicher
Diese Strategie ist jedoch gescheitert und hat dazu geführt, dass der Weg über das Mittelmeer noch gefährlicher wurde und sich der Anteil der bei der Überfahrt ums Leben gekommenen Menschen von 0,89 Prozent in der zweiten Jahreshälfte 2015 auf 2,7 Prozent im Jahr 2017 verdreifacht hat.
Veränderungen im Vorgehen der Schleuser und der zunehmende Einsatz von seeuntüchtigen Booten ohne jegliche Sicherheitsausrüstung an Bord machen die Überfahrten noch gefährlicher. Aber trotz eines extremen Anstiegs der Todesfälle – über 2000 seit Januar – ist die EU nicht bereit, angemessen ausgestattete und zielgerichtete humanitäre Operationen in der Nähe der libyschen Gewässer durchzuführen.
Stattdessen liegt der Fokus der EU auf der Kooperation mit der libyschen Küstenwache, um so das Ablegen von Booten von der Küste zu verhindern bzw. Boote vom Meer wieder an die Küste zurückzubringen.
Die Operationen der libyschen Küstenwache setzen Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten häufig grossen Gefahren aus. Diese Aktionen erfüllen nicht einmal die grundlegenden Sicherheitsstandards und können zu Panik und zum Kentern der Boote führen.
Kooperation mit Verbrecherbanden
Zudem werden schwerwiegende Vorwürfe laut, dass Angehörige der libyschen Küstenwache mit Schleusern kooperieren, und es liegen Nachweise über die Misshandlung von Migrantinnen und Migranten vor. Angehörige der Küstenwache geben immer wieder Schüsse auf Boote ab, und im vergangenen Monat kam ein Bericht der Vereinten Nationen zu dem Schluss, dass die Küstenwache «durch Schusswaffeneinsatz direkt zum Kentern von Booten beigetragen hat».
«Wir beteten alle. Ich habe die Lichter gesehen und gedacht: bitte, bitte nicht die libysche Polizei.»
Flüchtling aus Nigeria
Ein Mann aus Nigeria, der sich gemeinsam mit 140 weiteren Personen neun Stunden lang auf einem leckenden Boot befand, berichtete Amnesty International: «Wir beteten alle. Ich habe die Lichter [des Rettungsbootes] gesehen und gedacht: bitte, bitte nicht die libysche Polizei.»
Ein Mann aus Bangladesch erzählte Amnesty International von seinen Erfahrungen mit der libyschen Küstenwache: «Wir waren 170 Personen in einem Gummiboot. Sie brachten uns in ein Gefängnis und forderten Geld. Sie sagten uns: ‚Wenn ihr zahlt, wird euch diesmal niemand aufhalten, denn wir sind die Küstenwache' ... die libyschen Gefängnisse sind einfach die Hölle.»
Training der Küstenwache mit zweifelhaften Folgen
Die Zusammenarbeit der EU mit der libyschen Küstenwache, auch im Bereich Training und Ausbildung, geschieht derzeit ohne einen angemessenen Rechenschaftsmechanismus und ohne jegliches System zur Überprüfung von Verhalten und Leistung. Personen, die von der Küstenwache aufgegriffen werden, werden nach Libyen zurückgebracht, wo kein Asylrecht und kein Asylsystem existiert und man sie routinemässig inhaftiert und foltert. Den Menschen, die in Libyen festsitzen, drohen Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche und unbefristete Inhaftierung unter grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen sowie Folter, Vergewaltigung, Entführung, Zwangsarbeit und sogar Tötung.
«Während meiner Zeit im Gefängnis habe ich dreimal gesehen, wie Menschen gefoltert wurden. Ein Junge starb unter der Folter.»
Flüchtling aus Gambia
Ein Mann aus Gambia berichtete Amnesty International: «Ich habe drei Monate im Gefängnis verbracht ... In der Zelle schläft man wie in einer Sardinenbüchse, auf der Seite, weil einfach nicht genug Platz ist. Wer sich nicht richtig hinlegt, wird geschlagen. Das Wasser für die Toilette diente gleichzeitig als Trinkwasser ... Während meiner Zeit im Gefängnis habe ich dreimal gesehen, wie Menschen gefoltert wurden. Ein Junge starb unter der Folter ... Sie schlagen die Insassen mit Rohren. Ich wurde nachts geschlagen.»
Alle Kooperationsvereinbarungen zum Ausbau der Such- und Rettungskapazitäten der libyschen Küstenwache müssen an die Bedingung geknüpft werden, dass sich die Qualität der Einsätze umgehend deutlich verbessert und dass eine klare Rechenschaftspflicht für mögliche Menschenrechtsverstösse herrscht. Zudem sollte unbedingt darauf bestanden werden, dass aus Seenot gerettete Personen auf Schiffe gebracht werden, die sie in Länder verbringen, in denen ihrem Schutzbedarf entsprochen wird.
2017 droht das tödlichste Jahr auf dem Mittelmeer zu werden
«Wenn sich die Dinge im zweiten Halbjahr 2017 nicht ändern und wenn nichts unternommen wird, dann wird es dieses Jahr auf der tödlichsten Migrationsroute der Welt zu den bisher höchsten Todesraten kommen», so John Dalhuisen.
«Die EU muss dringend mehr Schiffe an kritischen Orten einsetzen und ihre Zusammenarbeit mit der mehr als unzulänglichen libyschen Küstenwache unbedingt noch einmal überdenken. Letztlich kann die Anzahl derjenigen, die sich in solch lebensgefährliche Situationen begeben, nur dadurch langfristig und auf menschliche Weise reduziert werden, dass mehr sichere und legale Zugangswege für Migranten und Flüchtlinge nach Europa geschaffen werden.»
Forderungen an die Schweiz
Die Schweiz hat als Mitglied des Verwaltungsrats der Frontex ein Stimmrecht und finanziert die EU-Grenzschutzagentur mit – 2017 wird der finanzielle Beitrag der Schweiz auf 12 Millionen Franken ansteigen. Während die Frontex die libysche Küstenwache verstärkt im Kampf gegen die Schlepper unterstützt, muss der Bundesrat sicherstellen, dass diese Kooperation nicht zu einer Verschlechterung der Menschenrechtslage von Flüchtlingen und Migranten führt.
Angesicht der grossen Zahl an Menschen, die in diesen Wochen an den italienischen Küsten ankommen, muss sich die Schweiz zudem solidarischer mit ihrem Nachbarland zeigen. Die 200'000 Unterbringungsplätze in Italien sind bereits weitgehend besetzt. Unter den Ankommenden sind viele verletzliche Menschen, darunter unbegleitete Minderjährige und Opfer sexueller Gewalt.
Stopp der Dublin-Rückweisungen von verletzlichen Asylsuchenden
Amnesty International ruft den Bundesrat auf, auf die Rückschaffung von verletzlichen Asylsuchenden nach Italien im Rahmen der Dublin-Verordnung zu verzichten. Das Staatssekretariat für Migration SEM muss zudem auf die Asylgesuche von unbegleiteten Minderjährigen an der Schweizer Südgrenze eintreten oder aber Familienzusammenführungen in andere europäische Länder ermöglichen und so das übergeordnete Interesse des Kindes respektieren.